Radikale Innovation ist mehr als ein Troubleshooter

Das 21. Jahrhundert stellt uns vor zahlreiche komplexe Herausforderungen. Wir stehen vor einer Klimakrise und anderen Umweltkatastrophen. Die Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf unser Leben wiegen zunehmend schwerer. All dies geschieht vor dem Hintergrund eines rapide anwachsenden internationalen Wettbewerbs in einem zunehmend globalen Markt. Viele betrachten radikale Innovationen als Antwort auf diese Herausforderungen. Unser Verständnis von Innovation sollte aber darüber hinausgehen. Wir müssen radikale Innovation ganzheitlich auffassen und damit ihre weitreichenden Auswirkungen mitdenken. Notwendig ist dies, da radikale Innovationen auch neuartige Ökosysteme um sich herum schaffen und unsere Lebensweise tiefgreifend erschüttern können. Sie generieren neue Potenziale und ökonomische Nischen, aber auch neue Herausforderungen, die nicht einfach ignoriert werden können. Die Entstehung solcher Ökosysteme ist manchmal schwer vorherzusagen, aber das sollte uns nicht davon abhalten, zu versuchen, die Zukunft bewusst zu gestalten, anstatt sie teilnahmslos geschehen zu lassen.

Aber wie lässt sich das bewerkstelligen? Wie können wir uns der gesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen der radikalen Innovation bewusst werden? Welche Art von Werkzeugen, Methoden und Denkweisen müssen wir pflegen und einsetzen, um sie zu antizipieren und sogar zu unserem Vorteil zu nutzen?

Bevor wir diese Fragen beantworten, sollten wir zunächst betrachten, wie radikale Innovationen unsere Welt, unsere Lebens- und Arbeitsweise verändert haben.

Radikale Innovation kann die Welt auf unerwartete Weise verändern

Das vielleicht eindrucksvollste Beispiel dafür, wie radikale Innovationen die Welt verändern können, ist das Internet. Es ist gleichzeitig auch ein anschauliches Beispiel dafür, dass radikale Innovationen nicht einfach nur die Probleme lösen, die sie eigentlich überwinden sollten. Ihre Wirkung geht nämlich weit über das hinaus, was man sich zunächst von ihnen erwartet.

Der Ursprung des Internets war ein Projekt, das ein einfaches Ziel hatte: Forschungsorganisationen in den USA miteinander zu verbinden. In Folge dieser Anstrengung entstand das ARPANET, das als Vorläufer des heutigen Internets gilt. Die Forschung wurde von der behördlichen Agentur ARPA (heute DARPA), finanziert und koordiniert, deren übergeordnetes Ziel es war, US-Forscher zu helfen, den Rückstand gegenüber der Sowjetunion aufzuholen. Damals rechnete niemand damit, dass das Projekt das moderne Internet hervorbringen würde. Zudem konnte niemand ahnen, wie sehr es unser Leben zum Guten oder zum Schlechten verändert hat. Diese Veränderungen haben uns zutiefst überrascht. Noch heute versuchen wir, sie zu verstehen und unser Leben mit ihnen in Einklang zu bringen.

Radikale Innovation schafft und vervielfältigt neue Nischen

Das Internet hat nicht nur seinen ursprünglichen Zweck erfüllt, Wissenschafter miteinander zu verbinden. Es ist auch zu einem gewaltigen Ökosystem mit einer unüberschaubaren Vielfalt ökonomischer Nischen herangewachsen; Nischen, die es zu besetzen gilt. So hat das Internet zum Beispiel die Entstehung sozialer Netzwerke wie Facebook ermöglicht. Doch damit war es nicht getan. Das Geschäftsmodell von Facebook ermöglichte es, Unternehmen wie Cambridge Analytica, noch nie dagewesene Mengen persönlicher Daten zu nutzen, indem sie eine Datenpanne (“data breach”) ausnutzten und die daraus gewonnenen Daten an politische Kampagnen verkauften. Dies trug infolge zu dem erfolgreichen Wahlkampf von Donald Trump, aber auch zur Brexit-Kampagne bei.

Es gibt auch viele ermutigende Beispiele dafür, wie radikale Innovationen zu völlig neuartigen Ökosystemen führten. Aus dem iPhone ging der iOS-App-Store hervor, der 2008 eingeführt wurde und heute mehr als zwei Millionen Anwendungen für den Download bereitstellt. Ein weiteres, eindrucksvolles Beispiel ist Netflix. Durch die Einführung von Video-on-Demand im Internet haben sie nicht nur die Weise verändert, wie wir Fernsehsendungen konsumieren, sondern darüber hinaus, wie Fernsehsendungen produziert werden. Vor dem Netflix-Zeitalter war die Fernsehserie, die auf einem einzigen, sich kontinuierlich entwickelnden Narrativ basierte, eine Ausnahme. Heute ist das aber nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern wurde hierdurch auch der Produktionswert von Serien erheblich angehoben. Man ist beinahe verleitet festzustellen, dass Netflix das Zeitalter des Kinos abgelöst hat.

All dies zeigt erneut, dass radikale Innovationen wesentlich breitere Auswirkungen haben und ganze Ökosysteme und neue Nischen um sie herum schaffen (Cazzolla Gatti et al., 2020). Aber warum sollten wir dieser Tatsache überhaupt Aufmerksamkeit schenken?

Radikale Innovationen sind immer ein tiefer Eingriff in die Welt, den wir oft erst verstehen lernen, wenn er einmal erfolgt ist. Roberto Cazzolla Gatti und seine Kollegen argumentierten, dass man die Nischen, die durch radikale Innovation entstehen, nicht vorhersehen kann. Vielmehr finden wir diese erst nach deren Entstehung vor. Sie meinen also, dass „die kreativsten Unternehmer nicht so sehr Gelegenheiten schaffen, sondern bereits eröffnete Nischen entdecken und Wege finden, sie zu füllen“ (S. 115, übers.).

Sind wir also den Auswirkungen der radikalen Innovation völlig ausgeliefert? Müssen wir zwangsläufig von ihren Folgen überrascht werden?

Das richtige Mindset annehmen

Das hängt von unserer Denkweise, also von unserem “Mindset” ab. Denn wenn wir von einer Haltung radikaler Offenheit ausgehen und auf Potenziale achten, finden wir nicht nur offensichtliche und vorgefertigte Nischen. Stattdessen finden wir etwas Subtileres, das anfangs nur schwer zu erfassen ist. Diese eben so genannten Potentiale “liegen in der Luft” und verstecken sich “unter der Oberfläche” des Wahrnehmbaren. Man muss erst tief in das Feld, das es zu untersuchen gilt, eintauchen und es empathisch erspüren, um es so “von innen her” kennen zu lernen.

In vielen Fällen hat ein Potential seinen Ursprung in fast nicht erkennbaren, unterschwelligen Veränderungen, wie z.B. gesellschaftlichen Werten oder kulturellen Verschiebungen. Da diese Veränderungen nicht auf ein konkretes Ereignis oder ein spezifisches Phänomen fixiert werden können, ist ein Prozess notwendig, den wir als “Sense-Making” bezeichnen. “Sense-Making” bezieht sich auf eine tiefreichende Immersion in und die aktive Auseinandersetzung mit der Thematik. Letztere erfordert, dass man den Gegenstand von Interesse, nicht einfach passiv betrachtet, sondern in ihn eintaucht, mit ihm interagiert und ihn “erlebt”. Auf diese Weise gewinnt man ein tiefes Verständnis des Gegenstandes, aber auch seines Kontextes. Ebenso ist es auch möglich, zu erkennen, worum es bei den Potentialen geht: um den potenziellen Wert oder das stillschweigende Bedürfnis, das dahinter steht – um den “purpose” des Gegenstandes. So kann man auch die Frage nach unbesetzten, potentiellen Nischen stellen, ganz im Allgemeinen aber auch die Frage, welche Schritte man nun in der Gegenwart setzen will, um in einer erwünschten Zukunft anzukommen.

Am wichtigsten ist, dass es bei dem “Sense-Making” nicht einfach darum geht, Potentiale zu “registrieren”. Es ist vielmehr eine ko-kreative, menschliche Aktivität. Genau hierdurch können wir unserer Handlungsvermögen (“agency”) im Anbetracht der Ungewissheit aufrechterhalten oder wiedergewinnen. Wenn wir die eben beschriebene Denkweise annehmen, folgen wir dem Prinzip des “learning from the future as it emerges”, anstatt uns tatenlos von der Zukunft überraschen zu lassen.

Potentiale erkennen – ein Beispiel

Um ein Beispiel zu nennen: Die Blockchain-Technologie kann als ein wichtiger Trend angesehen werden, der die Weise, wie wir finanzielle Transaktionen oder Verträge abwickeln, dramatisch verändert hat. Es liegt auf der Hand, dass wir diese Technologie nutzen, um bereits bestehende Probleme zu lösen und bestehende Ansätze zu optimieren.

Das latente Potenzial des Blockchain-Ansatzes ist jedoch subtiler und deutlich schwerer zu erfassen oder wahrzunehmen: Es berührt nämlich zutiefst qualitative Fragen, wie unter anderem zu neuen Formen der Vertrauensbildung, der Peer-to-Peer-Interaktion, “distributed processing” und der Dezentralisierung. Er wirft Fragen nach neuen Entwürfen des Gesellschaftsvertrags, neuen Formen des Managements, der Kooperation und der Wissensarbeit auf. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie diese Themen auf fruchtbare Weise miteinander verbunden werden können.

Sprin-D

Es ist erfreulich zu sehen, dass sich die politischen Entscheidungsträger der Tatsache stärker bewusst werden, dass radikale Innovationen enorme, diffuse Auswirkungen haben und zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erschütterungen führen können, wie die oben genannten Fälle eindrücklich zeigen.

An dieser Stelle ist die neu gegründete deutsche Bundesagentur für disruptive Innovationen, Sprin-D, zu nennen. Soweit wir beobachten konnten, soll die Agentur die Gründung von Technologieunternehmen fördern und ihnen Kontakte zu Forschungsinstituten vermitteln. Sie stellt ihnen auch die notwendigen Mittel zur Verfügung, um die anfangs schwierige und langwierige Arbeit an den aus ihrer Sicht disruptiven Innovationen zu unterstützen. Vor allem aber scheint das Hauptaugenmerk der Agentur auf den großen politischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu liegen, wie dem Klimawandel und anderen ökologischen Umwälzungen, aber auch der Digitalisierung. Dies ist ein Ziel, das vollumfänglich unterstützt werden sollte. Mehr noch: Sprin-D ist sich der gesellschaftlichen Auswirkungen von Innovationen bewusst. Sie sucht “nach Antworten auf die sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen unserer Zeit” (übers.) und betont das Bewusstsein für humanistische Werte. 

Dies ist eine gute Entwicklung. Um sie zum Erfolg zu führen, ist es nun wichtig, auch in die dabei neu entstehenden Potentiale einzutauchen, die solche Innovationen zwangsläufig mit sich bringen. Sie führen nämlich nicht einfach nur zu „mehr“ Digitalisierung oder „weniger“ Klimawandel. Radikale Innovationen beschleunigen nicht nur bereits eingeleitete Veränderungen – und vor allem machen sie sie nicht rückgängig. Sie schaffen vielmehr radikal neue Nischen, die uns oft völlig überraschen. Wir können dieser Entwicklungen dennoch steuern, wenn wir eine Haltung der radikalen Offenheit einnehmen und Instrumente wie das oben beschriebene Sense-Making einsetzen. Auf diese Weise können wir verborgene, stillschweigende Potenziale aufdecken und die Zukunft aktiv gestalten, wenn sie vorläufig im Begriff ist, sich abzuzeichnen. Setzen wir auf radikale Innovation als Mittel zur Lösung der drängendsten Probleme der Menschheit, so können wir deren weitreichende Folgen nur mit dem richtigen Mindset und radikaler Offenheit mitprägen.

Unsere Antwort auf diese Herausforderungen heißt leap, eine bewährte strategische Innovationsmethode, die es unseren Kunden ermöglicht, “aus der Zukunft zu lernen” und systematisch radikale Innovationen zu generieren (siehe zum Beispiel Bene Pixel). Darüber hinaus erlaubt uns leap, Innovation als ganzheitlichen Prozess zu verstehen und damit die subtilen, weitreichenden sozialen Folgen radikaler Innovationen besser zu antizipieren und zu gestalten.

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Literatur

Autor: Oliver Lukitsch

Image: Nordwood Themes at Unsplash