Author: Markus F. Peschl
Dies ist ein Auszug aus dem Entwurf eines Artikels, der 2022 in einem Sammelband über menschliche Lernräume von Christine Kohlert, bei Springer erscheinen wird.
Innovation beschäftigt sich mit der Zukunft, indem sie in unsere Umwelt eingreift und sie gestaltet. Wenn wir aber nicht nur bestehende Lösungen optimieren oder inkrementell innovieren wollen, müssen wir uns unweigerlich auf zukunftsorientierte Denk-, Lern- und Handlungsweisen einlassen.
In diesem Zusammenhang spielt der Begriff der “Futures Literacy” eine wichtige Rolle. Während sich das klassische Verständnis von “Literacy” (d.h. Alphabetisierung) auf die Beherrschung des Lesens, Schreibens oder mathematischen Denkens konzentriert, umfassen neuere Formen von Literacy auch kritisches Denken, den Umgang mit Technologie oder soziale Kompetenzen und die Empathiefähigkeit.
Futures Literacy geht noch einen Schritt weiter, indem sie behauptet, dass es eine wesentliche kognitive Kapazität ist, unsere Vorhersagefähigkeiten zu kultivieren und auszubilden. In vielen Fällen werden diese Fähigkeiten jedoch fälschlicherweise auf die Planung oder das Setzen und Erreichen von Zielen reduziert.
Auf diese Weise gehen sie nicht über eine Strategie der Extrapolation aus der Vergangenheit hinaus, die auf linearem Denken, Vorhersage durch Wahrscheinlichkeiten und Kontinuität beruht – aber auch auf dem Prinzip, dass „keine Veränderung der Bedingungen für Veränderungen“ stattfinden soll.
Diese recht enge Sichtweise der Antizipation und Gestaltung der Zukunft hat ihre Wurzeln in einem Verständnis der Zukunft als Ziel oder gewünschtem Zustand, den wir bereits vor Augen haben und der erreicht werden muss.
Von der Kenntnis der Zukunft zur Ermöglichung sich entfaltender Zukünfte
Dies steht im Gegensatz zu dem, was man als “Antizipation der Emergenz” bezeichnet. Das Später-als-Jetzt ist nicht mehr ein explizites und geplantes Ziel, sondern ein Potential, das bereits in der Gegenwart angelegt ist. Es durchläuft einen Prozess der Entfaltung und Emergenz und wird sich zu einem späteren Zeitpunkt verwirklichen.
Zukunftskompetenz ist also keine Fähigkeit, „die Zukunft zu kennen“, sondern es geht vielmehr darum, mögliche Zukünfte zu explorieren, vorzubereiten und zu ermöglichen. Sie schafft die Voraussetzungen dafür, dass sich eine positive Zukunft entwickeln kann.
Die Zukunft, oder genauer gesagt, die in der Gegenwart entstehenden Zukunftspotentiale, werden so zu einer der wichtigsten Quellen in diesem Prozess der Zukunftsgestaltung. In diesem Sinne „bedient“ sich die Zukunft “bei sich selbst”, statt bei der Vergangenheit – und wird so zu einer Quelle neuer Chancen und Möglichkeiten für die Gegenwart.
Was bedeutet das, und vor allem, welche kognitiven und verkörperten (“embodied”) Aktivitäten sind daran beteiligt? Und wie kann man eine angemessene Ausbildung oder ein passendes Training dafür anbieten? Was unsere kognitiven Fähigkeiten im Bereich der Zukunftskompetenz betrifft, so bezeichnen wir sie als “anticipatory sense-making” und wir haben in einem unserer früheren Blogbeiträge darüber geschrieben.
In Bezug auf Bildungsfragen müssen wir anerkennen, dass für die Entwicklung der zukunftsorientierten Perspektive (des “anticipatory sense-making”) weder ausreicht, nur bereits vorhandenes Wissen bereitzustellen. Es reicht vor allem auch nicht zu lehren/lernen, wie man die Zukunft schlichtweg vorhersagt.
Die Herausforderung besteht vielmehr darin, zu lernen, wie man mit der Offenheit und der disruptiven, emergenten Natur der Zukunft umgeht. Dies kann erreicht werden, indem neue Handlungsräume und -nischen erforscht, mitgestaltet und geformt werden und indem die Voraussetzungen für die Realisierung latenter Potentiale in der Gegenwart ermittelt und kultiviert werden. Mit anderen Worten: Zukunftskompetenz bedeutet, sich auf einen Prozess des gemeinsamen Werdens (also Co-becoming) mit einer sich entfaltenden Realität einzulassen.
Innovation und Lernen als Co-becoming
Co-becoming bedeutet, dass wir über unsere Beziehung zur Welt nachdenken und sie hinterfragen müssen. Anstatt in erster Linie etwas „über“ die Welt zu wissen, „über sie“ zu lernen und sie zu kontrollieren, müssen wir uns auf eine austauschorientierte, interaktive, existentielle und kooperative Beziehung zur Welt einlassen.
Diese neuartige Form des “Engagements” wurde auch in einem kürzlich erschienenen UNESCO-Bericht über die Zukunft des Lernens und der Bildung als ein zentrales Erfordernis genannt:
„…we have recognized that we live and learn in a world. Our pedagogies no longer position the world ‘out-there’ as the object we are learning about. Learning to become with the world is a situated practice and a more-than-human pedagogical collaboration… By focusing on worldly relations and encounters as inherently pedagogical, acknowledging that it is not only humans that teach and learn, and by mobilising human curiosity to learn from what is already going on in the world, we… make the shift from only ever learning about the world to learning with it.“
UNESCO – Learning to become with the world: Education for future survival.
Die Herausforderung des Lernens und der Innovation besteht also darin, sich auf einen Prozess des gemeinsamen Werdens (also des Co-becoming) mit der Welt einzulassen, anstatt nur über die Welt zu lernen. Dies hat auch eine wesentliche soziale Dimension, da es nicht nur ein Zusammenleben mit der „nicht lebenden Welt“, sondern auch mit anderen kognitiven Systemen und Menschen bedeutet. Die partizipative Sinnstiftung ist die Grundlage für einen solchen Prozess, der letztlich zur Mitgestaltung der Welt als sozial gestaltete Umwelt führt.
In vielen Fällen eröffnen diese Interaktionen des Co-becoming neue Bereiche des sozialen, gemeinschaftlichen Sense-making, die dem Einzelnen allein nicht zur Verfügung stehen würden. Durch die Beteiligung an solchen gemeinsamen Sense-making-Prozessen entsteht ein Sinn (“purpose”), der nicht nur sozial konstruiert wird, sondern auch einen neuen “purpose” als die Grundlage für Innovationen bildet. Wenn diese Prozesse auf Zukunftspotentialen beruhen, werden wir damit nicht nur Teil der bestehenden Welt, sondern auch ihrer Zukunft.
Was wir vorschlagen, ist eine alternative Perspektive darauf, wie neue Bedeutung, neues Wissen und Innovationen hervorgebracht werden können – nämlich in einem antizipatorischen, emergenten Prozess der sozio-epistemischen Kooperation und des Co-becoming mit der sich entfaltenden sozialen und nicht-sozialen Umwelt. Wir bezeichnen diese Perspektive als “Emergent Innovation”.
Stellen Sie sich als Analogie Musiker:innen vor, die gemeinsam improvisieren und neue Melodien, Rhythmen und Harmonien hervorbringen, indem sie Potentiale der Musik erforschen, die ihre jeweiligen Partner:innen interaktiv füreinander bereitstellen. Ähnlich wie bei zukunftsorientierten Innovationsprozessen machen sie sich gegenseitig „die Zukunft zunutze“, indem sie die von ihrer Umgebung bereitgestellten Potentiale wahrnehmen, aufgreifen und entwickeln.
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Literatur
De Jaegher, H., & Di Paolo, E. (2007). Participatory sense-making. An enactive approach to social cognition. Phenomenology and the Cognitive Sciences, 6(4), 485–507.
Ingold, T. (2013). Making. Anthropology, archaeology, art and architecture. Routledge.
Miller, R. (Ed.). (2018). Transforming the future. Anticipation in the 21st century. Routledge.
OECD. (2018). The Future of Education and Skills: Education 2030. OECD. https://www.oecd.org/education/2030/E2030%20Position%20Paper%20(05.04.2018).pdf (date of download: 27.02.2020)
Peschl, M. F. (2020). Theory U: From potentials and co-becoming to bringing forth emergent innovation and shaping a thriving future. On what it means to “learn from the future as it emerges.” In O. Gunnlaugson & W. Brendel (Eds.), Advances in Presencing (Vol. 2, pp. 65–112). Trifoss Business Press.
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Peschl, M. F., Rötzer, K., Bottaro, G., & Hartner-Tiefenthaler, M. (2019). The role of the shift from I-to-We and Theory-U in overcoming 21st century illiteracies. In O. Gunnlaugson & W. Brendel (Eds.), Advances in Presencing (Vol 1) (pp. 161–210). Trifoss Business Press.
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