Liste der Artikel über unser Leitprinzipien
- Auftakt: Was Organisationen mit lebenden Systemen gemein haben
- Prinzip #1: Radikale Offenheit
- Prinzip #2: Sensing the Core
- Prinzip #3: Verborgene Potentiale erkennen und zum Leben erwecken
- Prinzip #4: Design und Co-creation
- Prinzip #5: Emergenz
- Prinzip #6: Enabling
- Prinzip #7: Learning from the Future as it Emerges
Dieser Artikel ist Teil einer Serie von Blogbeiträgen, in denen wir, theLivingCore, unsere grundlegenden Leitprinzipien darlegen. Wir haben bereits die wissenschaftliche Grundlage unseres Ansatzes und das erste unserer sieben Prinzipien vorgestellt – das Prinzip der radikalen Offenheit. Der Reihenfolge entsprechend betrachten wir diesmal das zweite Prinzip. Um kurz zusammenzufassen, womit wir es zu tun haben: unser zweites Prinzip steht dafür, wie wir Organisationen oder Innovationsobjekte betrachten – wie wir sie wahrnehmen, sie erspüren oder wie wir ihr “Innenleben” erfassen. Dabei geht es vor allem um die Frage, warum Dinge überhaupt existieren, sei es eine Organisation, ihre “Umwelt”, ein Prozess oder ein Innovationsobjekt. Das zweite Prinzip besagt also, dass unsere Arbeit immer darauf abzielt, den Kern (“core”) unseres “Untersuchungsgegenstandes” zu ergründen. Lassen Sie uns einen Blick darauf werfen, was wir damit meinen.
Warum sind die Dinge so, wie sie sind?
Wenn wir unseren Alltag bestreiten, hinterfragen wir nur selten, warum die Dinge so sind, wie sie eben sind. Wenn wir gefragt werden, worum es in unserer Organisation, unserem Unternehmen, bei unseren Produkten und Dienstleistungen geht und welchem grundlegenden Zweck sie letztlich folgen, fällt es uns zunächst nicht schwer, eine Antwort zu finden. Wir sind dann schnell verleitet, zu behaupten: „wir bauen Autos – und Autos sind dazu da, uns von A nach B zu befördern“, oder „wir produzieren Stühle, damit Menschen darauf sitzen können“. Auf den ersten Blick erscheint uns die Frage nach dem Grund vor allem trivial. Spontan und intuitiv scheinen wir zu wissen, warum die Dinge so sind, wie sie sind.
Tatsächlich lassen sich unsere Antworten auch nicht einfach von der Hand weisen. Was unseren Arbeitsalltag betrifft, sind sie zweifellos berechtigt. Dennoch können solche „alltägliche“, spontane Antworten leicht als oberflächlich, kurzsichtig – und zuletzt auch als unvollständig entlarvt werden. Warum lässt sich dergleichen aber behaupten? Der Grund für unsere Behauptung ist, dass uns oft die richtige Antwort fehlt, wenn wir die Frage neu formulieren oder die Fragerichtung wechseln. Besonders deutlich wird das, wenn wir anfangen, uns Gedanken über die Zukunft zu machen.
In der Tat befinden wir uns auf gänzlich ungewohntem Terrain, wenn wir uns die Frage nach dem Grund stellen und dabei die Zukunft im Blick haben. Wie kann unsere Organisation in 10 Jahren aussehen? Welche Produkte und Dienstleistungen werden wir entwickeln und anbieten? Welche Art von Geschäftsmodell werden wir verfolgen – und in welchem Markt? Die eben genannten Fragen sind wesentlich schwieriger zu beantworten. Sie offenbaren, dass es eigentlich doch herausfordernd und nicht selbstverständlich ist, den Grund dafür aufzudecken, warum die Dinge so sind, wie sie eben nun sind.
Sensing the core – ein tiefes Verständnis erlangen
Zur Erklärung: Warum unsere Organisationen und Produkte/Dienstleistungen auf ihre Weise existieren, ist natürlich auch “an deren Oberfläche” abzulesen, bzw. sichtbar. Aber es gibt mehr als das zu lernen und zu sehen, als oberflächlich erkennbar ist – das aber nur, wenn wir uns in die “Tiefe” wagen. Was genau glauben wir nun “unter der Oberfläche” zu finden?
Zum Beispiel ist ein Auto einer bestimmten Marke nicht nur ein Auto, um von A nach B zu fahren. Es ist viel mehr als das. Denken Sie nur an die unterschiedlichen Lebensgefühle, die mit bestimmten Automarken in Verbindung stehen. Das Gleiche gilt für einen Stuhl, der oft nicht lediglich ein Sitzgegenstand ist. Er verkörpert vielmehr ein eigentümliches Design, erzählt eine Geschichte und ist mit unterschiedlichsten Bedeutungen aufgeladen. All diese Dinge (oft handelt sich um eine komplexe Vielfalt) sind in der Summe wesentlich, um den Kern eines Objekts zu verstehen. Und vor allem gilt hier; das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.
Wir wollen etwas konkreter werden. Alles in allem gibt es zwei Dinge, die wir “erspüren” können sollten:
- Wir müssen ein tiefes Verständnis für den Kern (einer Organisation, eines Produkts, einer Dienstleistung) erlangen.
- Wir müssen Zukunftspotentiale (einer Organisation, eines Produktes, einer Dienstleistung) erkennen und entwickeln.
Einfach ausgedrückt: Wir müssen zuerst ein tiefes Verständnis dafür haben, wofür wir uns interessieren. Erst dann können wir uns ein umfassendes Bild von der Zukunft der Organisation oder des Produkts/der Dienstleistung machen. Am interessantesten ist dabei, dass (1) und (2) tief miteinander verwoben sind. Indem wir die Zukunftspotentiale verstehen, verstehen wir den Kern oder die Essenz einer Organisation oder eines Produkts/einer Dienstleistung. Und indem wir ihren Kern verstehen, verschaffen wir uns gleichsam Zugang zu ihren Zukunftspotentialen.
Aber wie erreichen wir das? Wie genau können wir den Kern erspüren und verstehen?
Die richtigen Fragen stellen
Ein Ansatz, den wir hier als äußerst wirkungsvoll erachten, ist der Rückgriff auf Aristoteles Ursachenlehre. Der griechische Philosoph unterschied zwischen verschiedenen Arten, die Frage nach dem „Warum“ zu stellen. Um ein vollständiges Verständnis der Ursache zu erreichen und damit zu klären, warum ein Ding ist, wie es eben ist, muss man vier Dinge in Erfahrung bringen.
- Causa finalis: Was ist sein Ziel? Was ist sein Zweck?
- Causa formalis: Was ist es?
- Causa efficiencs: Woher kommt es?
- Causa functionalis: Wie funktioniert es?
- Causa materialis: Woraus besteht es?
Diese Fragen mögen nun wieder trivial klingen. Aber lassen Sie sich nicht täuschen. Indem man sie immer und immer wieder stellt (so wie ein Kind, das unermüdlich fragt, warum die Dinge so sind, wie sie sind), vertieft man kontinuierlich sein Verständnis und kommt so dem Kern dessen, was man zu verstehen sucht, immer näher.
Wir können nur betonen: auch wenn all das einfach klingt, ist es eine überraschend anspruchsvolle Aufgabe, solche Fragen zu stellen. Im Nebenbei gelingt dies keinesfalls. Es erfordert ein hohes Maß an Offenheit und eine geschärfte Wahrnehmungskompetenz. Nicht zuletzt erfordert es vor allem Geduld.
Eine Fallstudie
All jenen, denen veranschaulichende Beispiele lieber sind, wollen wir die folgende Episode nicht vorenthalten:
In den späten Neunzigern wurde die Designfirma IDEO mit der Aufgabe betraut, den Einkaufswagen gewissermaßen “neuzuerfinden”. Das Ergebnis des Projekts war – das wird Sie kaum überraschen – ein Einkaufswagen, wenn auch ein sehr ausgeklügelter, multifunktionaler, wohlgemerkt ohne herkömmliche Ladefläche, aber herausnehmbaren Körben usw.
Auffällig ist dabei, dass die Designer_innen nicht so weit gingen, tiefreichende Fragen nach dem “Warum” zu stellen. Sie haben nicht versucht, den eigentlichen Kern des Innovationsobjekts zu verstehen. Zwar ging dem Projekt eine große Recherche voran. Jedoch wurde vor allem die zentrale „causa finalis“-Frage schlichtweg ausgelassen. Was wir den „Kern“ nennen, blieb also unberührt. Das soll nicht heißen, dass IDEOs Ergebnis schlecht war. Es bedeutet lediglich, dass wir, sobald wir die “eigentliche Natur” oder den Kern einer Sache (wie eben dem Einkaufswagen) verstehen, am Ende vielleicht gar nicht mit einem ausgeklügelten Einkaufswagen dastehen. Vielmehr könnte das Resultat sein, dass wir ein völlig anderes und neuartiges Produkt oder eine Dienstleistung ins Leben gerufen hätten. Aber dies kann man nur dann, wenn man ein tiefes Verständnis für den Zweck (“purpose”) eines Innovationsobjekts erlangt.
Der Grund dafür ist, dass die Antwort auf die Frage nach dem Kern des Einkaufswagens nicht einfach aufdeckt, warum es Einkaufswagen gibt. Vielmehr stellt man so die Idee des Warenkorbs selbst infrage. Die Frage nach dem “Warum” könnte genauso gut lauten: Werden wir den Einkaufswägen in Zukunft tatsächlich noch brauchen, so wir denn seinen Zweck verstanden haben? Das heißt; wenn wir uns auf den Zweck (also “purpose”) des fraglichen Objekts konzentrieren (und nicht nur auf das Objekt), eröffnen wir ein völlig neuartiges Spielfeld. Wir behandeln dann nämlich Potentiale, die weit über das ursprüngliche Objekt unseres Interesses hinausgehen.
Wenn all dies die Grundlage eines Innovationsprozesses ist, können genuin neuartige Ideen entstehen, die von radikal neuen Produkten über Dienstleistungen, bis hin zu Geschäftsmodellen reichen. Wäre IDEO diesem Ansatz in den Neunzigern gefolgt, hätte die Firma vielleicht keine ausgefallenen Einkaufswagen entwickelt. Vielleicht wäre das Ergebnis eine völlig neue Art des Einkaufens gewesen, wie beispielsweise ein Lieferdienst oder eine Art der Lebensmittelbestellung.
Es bleibt hier noch zu abschließend zu sagen, dass der Einkaufswagen von IDEO nicht gut gealtert ist. Wenn sie zuvor noch nie von ihm gehört haben, dann aus gutem Grund. Rund um den Globus setzte sich der traditionelle Einkaufswagen durch. Und dies spiegelt eine weitere Erkenntnis wider, die hier hervorgehoben werden sollte: Wenn man sich zu Beginn eines tiefen Innovationsprozesses nicht die Zeit nimmt, den Kern eines Objekts zu explorieren, führt das oft zu (1) „mehr vom Gleichen“ oder (2) zu „Workshop-Einsichten“, die in der Regel nicht von Dauer sind. Mit anderen Worten: Wenn Sie darauf abzielen, auf diese Weise neuartige Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, laufen Sie Gefahr, etwas mehr oder weniger Beliebiges zu produzieren.
Radikale Innovation kann sich daher nicht auf unsere Wahrnehmung der „Oberfläche“ eines Innovationsobjekts verlassen. Sie muss tiefer reichen. Den „Kern“ zu erforschen, bedeutet also, über das oberflächlich Sichtbare hinauszugehen. Es bedeutet, einen philosophischen und empathischen Ansatz zu wählen, um das Innovationsobjekt “von innen” her und nicht “von außen” kennenzulernen. Aus diesem Grund ist es zwar unerlässlich, Nutzer_innen/Kunden_innen aufrichtig zuzuhören, es ist aber auch nur ein Teil der Lösung. Denn die so gewonnenen Erkenntnisse müssen auch nachdrücklich auf den Kern des Innovationsobjekts bezogen werden. Das heißt, dass ein tiefes und zukunftsorientiertes Verständnis des Kerns eines Produkts/einer Dienstleistung Innovation regelrecht prägt, während das Nutzer_innenfeedback sie eher moduliert.
Um diesen Blogpost abzuschließen: unser zweites Prinzip ist ein entscheidender Teil unserer Arbeitsweise und ein wesentlicher Bestandteil unserer Innovationstechnologie leap. Unsere Erfahrung hat so immer wieder gezeigt und bestätigt: um erfolgreich zu sein, verlangt radikale Innovation, dass wir allem voran das Wesen des Innovationsgegenstandes verstehen – dass wir seinen „Kern erspüren“ müssen.
Autor: Oliver Lukitsch
Image: June Wong bei Unsplash
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