Zukunft der Bildung als Schule der Zukunft: Orte der Zukunftsgestaltung

Markus F. Peschl

„On the side of education, this is a matter of overthrowing the traditional view of pedagogy as the inter-generational transmission of authorised knowledge. Education is not a ‘stilling in’ but a ‘leading out’, which opens paths of intellectual growth and discovery without predetermined outcomes or fixed end-points.

It is about attending to things, rather than acquiring knowledge…; about exposure rather than immunisation. The task of the educator, then, is not to explicate knowledge for the benefit of those who are assumed, by default, to be ignorant, but to provide inspiration, guidance and criticism in the exemplary pursuit of truth.“

(Ingold 2017, p ix)

Die heutigen Herausforderungen, der rasche und unvorhersehbare technologische Fortschritt und die sozioökonomischen Umwälzungen unserer Zeit erfordern ein völlig neues Verständnis von Bildung. Das traditionelle Bildungssystem ist hauptsächlich auf die Vermittlung von Wissen aus der Vergangenheit ausgerichtet. Gefordert ist jedoch ein System, das den Menschen in seiner Ganzheit betrachtet und ihn befähigt, die sich ständig verändernde Welt zu entdecken, mitzugestalten und letztlich darin Sinn zu finden und Sinn zu stiften. Dieser kurze Essay soll die Dringlichkeit einer Veränderung unserer Bildungssysteme auf den Plan rufen.

Bildung in der VUCA-Welt

Um gleich zur Sache zu kommen: Wir wollen uns zunächst mit dem spezifischen Umfeld befassen, in dem Bildung heute ihre Aufgabe erfüllen muss. Der Begriff VUCA-Welt (Baran and Woznyj, 2021), der für Volatilität (“volatility”), Ungewissheit (“uncertainty”), Komplexität („complexity„) und Mehrdeutigkeit (“ambiguity”) steht, charakterisiert treffend die Beschaffenheit der Welt, in der wir heute leben. Auch wenn dies wie ein neues Phänomen erscheinen mag, zeigt uns die Geschichte, dass wir schon immer in solch einer VUCA-Welt gelebt haben und uns in unterschiedlichen Herausforderungen und Veränderungen behaupten mussten. Die gegenwärtige Ära muss jedoch in ihren VUCA-Eigenschaften als außergewöhnlich betrachtet werden. Das rasante Tempo des technologischen Fortschritts, der ökologischen und geopolitischen Verschiebungen und der sozioökonomischen Veränderungen, etc. hat die Unbeständigkeit, Unvorhersagbarkeit, Komplexität und Mehrdeutigkeit unseres Umfelds nochmals verstärkt.

Individuen, ebenso wie Organisationen und ganze Gesellschaften stehen heute vor noch nie dagewesenen Herausforderungen (z.B. Klimawandel, ökonomische und politische Verschiebungen, Artificial Intelligence, etc.), die nicht nur Agilität und Anpassungsfähigkeit erfordern, sondern zukunftsorientiertes innovatives Denken, um inmitten ständiger Disruptionen nicht nur erfolgreich zu sein, sondern diese Welt als lebenswerten und menschlichen Ort zu erhalten und zu gestalten. Die inhärente Unvorhersehbarkeit der VUCA-Welt zu akzeptieren, ist unerlässlich, wenn wir in eine Ära vorstoßen, in der der Wandel die einzige Konstante ist. Angesichts dieser radikalen Veränderungen (z.B. durch neue Technologien, wie Artificial Intelligence) stellt sich die große Frage, was Bildung heute noch bedeuten kann und vor welchen neuen Aufgaben und Herausforderungen Schule und Universität in einem VUCA-Kontext stehen. Es scheint, dass sich unser bestehendes Bildungssystem, in dem Schule/Universität als Ort verstanden wird, der fast ausschließlich auf Vermittlung (und [Auswendig-]Lernen) von Wissen aus der Vergangenheit abzielt, überlebt hat.

Unsere Welt zeichnet sich durch Volatilität (“volatility”), Ungewissheit (“uncertainty”), Komplexität („complexity“) und Mehrdeutigkeit (“ambiguity”) aus: VUCA

Vier Zukunftsfragen die sich unsere Bildungssysteme stellen müssen

Zukünftige Bildungssysteme müssen sich folgenden — im Grunde sehr alten — Fragen stellen, diese jedoch im Lichte der oben genannten aktuellen vor allem technologischen Entwicklungen (neu) beantworten und in pädagogische Konzepte umsetzen: 

  • Was macht uns in solch einer Welt zum Menschen, wie sieht das spezifisch Menschliche aus? 
  • Wie sieht eine sinnvolle Beziehung zwischen Mensch(en), Umwelt, Gesellschaft, Technologie und Zukunft aus? 
  • Wie begegnen wir den Herausforderungen der zunehmend verschwimmenden Grenzen zwischen Mensch und Technologie auf eine menschliche(re) Weise? 
  • Welche Fähigkeiten/Kompetenzen, Haltungen und Denkweisen benötigen wir, um mit unserer ungewissen und unvorhersehbaren Zukunft umzugehen, und um sie mit Bedeutung und auf eine fruchtbare Art und Weise zu co-kreieren?

Auf diese Fragen zu antworten, würde den Rahmen dieses Artikels bei weitem sprengen, daher können hier nur einige Eckpfeiler solch eines Zukunftskonzepts von Bildung skizziert werden. Zuallererst müssten wir beginnen, den Menschen (wieder) als ein Sinn-suchendes (“sense-making”) Wesen zu verstehen und ihn/sie in seiner/ihrer Suche nach dem Sinn im Leben (sich selber), Sinn in der Welt, Sinn im sozialen und ökologischen Umfeld ernst zu nehmen. Hier geht es explizit nicht (nur) um Wissen, sondern um Sinn (”purpose”), da dieser nicht nur Orientierung und Richtung für alle weiteren Aktivitäten, Entwicklungen und Formen des Lernens gibt, sondern auch immer den Mensch als Ganzes in seiner Zukunftsgerichtetheit und Gestaltungsorientiertheit im Blick hat. Darüber hinaus trägt dies neueren Einsichten der Kognitions- und Neurowissenschaften Rechnung, dass unser Denken (und menschliches Sein) nicht nur auf Wissen und unser Gehirn beschränkt ist, sondern den Körper und Emotionen ebenso umfasst wie unsere Umwelt. Der sogenannte 4E-Ansatz zu Kognition (z.B. Newen et al., 2018) geht davon aus, dass unser Denken verkörpert (“embodied”) und in die materielle und soziale Umwelt eingebettet (“embedded”) ist, dass wir unter Zuhilfenahme unserer Umwelt denken (“extended”) und dass wir unsere innere und äußere Umwelt in Interaktion mit dieser permanent kreieren (“enacted”). Dies stellt einige lieb gewonnene Prämissen in pädagogischen Ansätzen, wie z.B. die Idee von Lehren/Lernen als “Wissenstransfer/-vermittlung”, auf den Kopf und ersetzt diese z.B. durch Prozesse der Co-Konstruktion von Wissen und Bedeutung in sozio-materiellen Formaten oder durch neue Haltungen und Verständnis betreffend unsere Beziehung zur Welt und zu Wissen.

In Zukunft wird es nicht mehr so sehr um “Wissen über die Welt” gehen, sondern um die existenziellere Frage eines sinnerfüllten Lebens und Lernens mit/in der Welt. Dies bedeutet, dass die Gestaltung der Welt und das sogenannte „Co-Becoming“ mit der Zukunft als situierte und soziale Praxis in den Vordergrund rücken werden. Der Begriff „Co-becoming“ kann als „gemeinsames Werden“ oder „Co-evolvieren“  ins Deutsche übersetzt werden. Während „gemeinsames Werden“ den Gedanken des gemeinsamen Entstehens mit der Welt betont, so unterstreicht „co-evolvieren“ den kollaborativen und evolutionären Charakter dieses Prozesses. Dies kommt in einem Positionspapier der UNESCO zur Zukunft der Bildung klar zum Ausdruck: 

„…we have recognized that we live and learn in a world. Our pedagogies no longer position the world ‘out-there’ as the object we are learning about. Learning to become with the world is a situated practice and a more-than-human pedagogical collaboration… By focusing on worldly relations and encounters as inherently pedagogical, acknowledging that it is not only humans that teach and learn, and by mobilising human curiosity to learn from what is already going on in the world, we… make the shift from only ever learning about the world to learning with it.“

(UNESCO 2021, p 7 [Hervorhebungen durch den Autor])
„…by mobilising human curiosity to learn from what is already going on in the world, we… make the shift from only ever learning about the world to learning with it.“ (UNESCO 2021, p 7)

Future Education Skills – die Bildungskompetenzen der Zukunft 

Dies erfordert eine ganze Reihe neuer Fähigkeiten und Haltungen und Mindsets, die in aktuellen pädagogischen Konzepten — wenn überhaupt — nur sehr sporadisch zu finden, geschweige denn darin als grundlegende Leitprinzipien verankert sind:

  1. Vom Wissen zum Nicht-Wissen: Die Komplexität und Unvorhersagbarkeit der Welt, ebenso wie Co-Becoming, implizieren das Anerkennen des Nicht-Wissens, da die Welt immer reichhaltiger ist als unser Wissen über sie und sie uns immer aufs Neue überraschen kann. Eine Haltung der Offenheit und Rezeptivität bzw. des Aufgebens der Kontrolle ist eine Voraussetzung dafür.
  2. Wissen und Bedeutung sind in permanentem Fluß und werden stets neu “verhandelt” und (co-)konstruiert: Eine konstruktivistische Perspektive und oben genannte neuere Ansätze der Kognitions- und Neurowissenschaften gehen von einer dynamischen und offenen (“open-ended”) Beziehung zur Welt aus, in der die Interaktion und die fluide Kopplung im Sinne eines Co-Becomings mit dieser im Vordergrund stehen. Dies beinhaltet ein sich stets auf das Neue in der Welt Einlassen und einen kreativen Umgang mit (Zukunfts-)Potentialen und Möglichkeiten, die uns “angeboten” werden.
  3. Systemdenken und Denken in Ökosystemen: Unser heutiges Denken, unser Handeln und auch unsere Bildung sind sehr stark von einer linearen Vorstellung der Welt geprägt und daher durch lineare Ursache-Wirkungs-Ketten bestimmt. In einer VUCA-Welt ist dies jedoch nicht länger adäquat, da solch eine Welt von nicht-Linearität, sich verstärkenden Feedback-Loops und Exponentialität geprägt ist. Dies verunmöglicht eine (lineare) Vorhersage aus der Vergangenheit und bedarf eines Denkens in (Öko-)Systemen und eines Handelns, das von der Zukunft her getrieben ist.
  4. Making, Kreativität und Innovation: Wir haben gesehen, dass unser Denken (und Lernen) zu sehr im und auf den Kopf fixiert ist. Demgegenüber steht das sich Einlassen auf die Umwelt und das aktive Tun bzw. das Hervorbringen von Artefakten und das Gestalten der Welt. Im aktiven Engagement mit der Welt ergeben sich oft Möglichkeiten, die wir uns anfangs gar nicht hätten denken oder vorstellen können; dieses “material engagement” (Malafouris, 2019) wird zur Quelle von Kreativität und Innovation. Das (radikal) Neue entsteht nicht in klassischen Lernprozessen, sondern in einem Prozess des in Resonanz- und in Korrespondenz-Tretens (Ingold, 2013; Rosa, 2019) mit einer sich in Entwicklung (“unfolding”) befindlichen Welt — in einem wechselseitigen und kontinuierlichen “Hinhören” und “Antworten” auf diese Welt.
  5. Fokus auf Purpose: Ein klar definierter und gelebter Purpose (Zweck) ist nicht nur ein entscheidendes Instrument, um Richtung, Orientierung und Kohärenz (zwischen beteiligten Stakeholdern) zu haben, sondern stattet ein Individuum, ein soziales System oder eine Organisation auch mit einer eigenen Zukunftsstrategie aus. Demnach geht es bei Purpose immer um zukünftige Zustände und Zukunftspotenziale; er ist in der Zukunft angesiedelt, in der Gegenwart verankert, verbindet die Zukunft mit der Vergangenheit und zieht ein System aus der Zukunft her an, wie es H.v.Foerster formuliert, er ist eine „Ursache, die in der Zukunft liegt“. Daher ist es unerlässlich, den Zweck eines Systems (unabhängig davon, ob es sich um ein materielles Artefakt, ein soziales System, oder eine Organisation handelt) explizit zu gestalten, denn er ist die zentrale Ursache, wofür es steht, und warum und wofür es existiert und in Zukunft existieren wird.
  6. Futures Literacies und “Learning from the future as it emerges”: Während klassische Lehr- und Lernprozesse meist auf bereits bestehendes Wissen abzielen, geht es in zukunftsorientierten Lern- und Innovationsprozessen um sogenannte Zukunftspotentiale. Obgleich sie in der Realität angelegt sind, entziehen sie sich unserer direkten Wahrnehmung oder unserem “gesicherten Wissen”. Wir benötigen daher alternative Kompetenzen, aber auch Haltungen, um zu lernen, “das, was möglich ist”, wahrzunehmen und zu nutzen. Diese lassen sich unter sog. “Futures Literacies” (z.B. Miller, 2018) zusammenfassen, in denen es darum geht, Zukunftspotentiale zu identifizieren und diese schon heute zu nutzen, um wünschenswerte Zukünfte zu gestalten. Lernen aus der Vergangenheit wird zu einem “Learning from the future as it emerges” (Scharmer, 2016).
Unser Nicht-Wissen und den Reichtum unserer Welt, der weit darüber hinausgeht, anzuerkennen, ist ein wesentlicher Schritt, um uns von der Welt fundamental überraschen zu lassen.

Es besteht höchster Handlungsbedarf

Schon aus dieser sehr kursorischen Übersicht über Zukunftskompetenzen wird deutlich, dass es — angesichts der disruptiven Veränderung in unserer Welt auf der einen und der äußerst starren Strukturen in unseren Bildungssystemenen auf der anderen Seite — einer ehrlichen Auseinandersetzung mit sehr grundlegenden Fragen des Lernens und Lehrens, aber ebenso des Wissens (im Sinne einer Tätigkeit) und der Haltungen und Mindsets bedarf. Es besteht höchster Handlungsbedarf, dass die resultierenden Einsichten in eine tiefgreifende Transformation unserer Bildungssysteme münden, die nicht nur kosmetischer Natur sind, sondern Menschen hervorbringen, die selber durch eine persönliche Transformation gegangen sind und sie dadurch zu autonomen, zukunftsorientierten und verantwortungsbewussten Gestalter:innen unserer Zukunft machen.

Obwohl der angesprochene Wandel zunächst als herausfordernd erscheinen mag, haben unsere zahlreichen Erfahrungen in Projekten, die sich auf zukunfts- und sinnorientiertes Arbeiten, Lernen und Lehren konzentrieren, nicht nur deutlich aufgezeigt, dass er von allen Beteiligten positiv aufgenommen wurde, sondern auch in seinem Wert geschätzt wird, proaktiv mitgestaltet zu können. Unser Ansatz zielt darauf ab, unterschiedlichste Stakeholder in die Erkundung und co-kreative Gestaltung ihrer Umwelt einzubeziehen. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist unsere Zusammenarbeit mit der Medizinischen Universität Graz, bei der wir das Profil der Universität so weiterentwickelt haben, dass es den gesamten urbanen Raum um die Organisation für eine gemeinschaftliche, kreative Gestaltung öffnet. Die Universität verwandelt sich dadurch in einen Ort, der sinnstiftend wirkt und seine Umgebung nachhaltig und zukunftsorientiert prägt und formt.

Diese und viele weitere Projekte unterstreichen unsere Überzeugung, dass zukunftsorientierte Bildung uns zu Gestaltern macht. Wenn auch Sie diese Vision teilen, freuen wir uns, Sie auf diesem Weg zu begleiten und zu unterstützen. Denn sowohl bei der Entwicklung neuer, zukunftsorientierter Curricula in Bildungseinrichtungen als auch bei Weiterbildungsprogrammen oder Akademien für Unternehmen können wir unsere Erfahrungen gezielt einbringen und so gemeinsam mit Ihnen die Zukunft der Bildung als Schule der Zukunft gestalten. 

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Referenzen:

Weitere Details zu diesem Thema können hier nachgelesen werden:

Peschl, M.F. and T. Fundneider (2023). Co-Becoming: How to Shape Desirable Futures in Highly Uncertain Times. On learning and the role of futures literacy in a VUCA world. In C. Kohlert (Ed.), Die menschliche (Hoch)schule – Human(e) Education, pp. 19–50. Wiesbaden: Springer. bzw. https://shorturl.at/hnJQ0 (pre-final text for download)

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