Autoren: Markus Peschl, Thomas Fundneider | Übersetzung aus dem englischen Original von theLivingCore
Photo: Susan Wilkinson
Bitte versetzen Sie sich für einen Moment in die folgende Situation. Sie sind am Ende eines Innovationsprozesses oder eines Design Thinking Workshops angekommen, Sie klatschen in die Hände und das Lächeln in Ihrem Gesicht zeigt den anderen Teilnehmenden den Erfolg dieses kreativen Prozesses.
Aber fragen Sie sich selbst, wie oft hat Sie ein unausgesprochenes Gefühl beschlichen, dass das Ergebnis dieses Prozesses irgendwie unbefriedigend oder oberflächlich war? Wie oft haben Sie sich das selbst oder anderen gegenüber zugegeben?
Sie haben hart gearbeitet, eine Reihe von kreativen Übungen durchlaufen, versucht, die besten Ihrer Ideen zu finden, sie auf bunten Klebezetteln notiert, sie geordnet und neu angeordnet. Doch irgendwie konnten Sie das „Wow“, den überraschenden Effekt, nicht erkennen. Sie vermissten die radikale Neuheit, oder Sie waren nicht wirklich davon überzeugt, dass es einen klaren Zweck gibt, der den potenziellen zukünftigen Bedürfnissen der Nutzer:innen dient. Im Gegenteil, die „tollen Ideen“ verrinnen in den nächsten Wochen wie Sand am Meer.
Warum schränkt eine traditionelle Auffassung von Kreativität unser Innovationspotential ein?
In diesem Artikel wollen wir das Problem an der Wurzel packen und erörtern, warum klassische Kreativitätsansätze, Kreativitätstechniken, Out-of-the-Box-Denken oder Design-Thinking-Übungen an ihre Grenzen stoßen, wenn es darum geht, die Zukunft mit radikaler Innovation zielgerichtet zu gestalten.
Wir werden zeigen, dass wir unser Verständnis von Kreativität und Innovation grundlegend ändern müssen, um diese Grenzen zu überwinden. Während wir uns in diesem Blogbeitrag mit eher theoretischen Fragen befassen und eine alternative Perspektive auf Innovation und Kreativität entwickeln, werden wir in einem zweiten Beitrag anwendbare Innovationskompetenzen und Denkweisen vorstellen, die einen solchen Ansatz ermöglichen.
Um auf unsere im ersten Absatz beschriebene Erfahrung zurückzukommen, möchten wir ein Wort der Erleichterung aussprechen. Es ist nicht Ihre Schuld, wenn die Ergebnisse eines solchen Innovationsprozesses Sie nicht überzeugt haben und Ihre Erwartungen in Bezug auf Neuheit und Nutzen nicht erfüllt haben.
Wie wir gleich sehen werden, liegt das an den angewandten Methoden und Prozessen; genauer gesagt, an den Annahmen über Kreativität und Innovation, auf denen sie beruhen, und daran, wie diese Annahmen in diesen Methoden implizit materialisiert werden.
Zwei zentrale Annahmen über Kreativität
Im Allgemeinen ist der Ausgangspunkt für jede Innovation eine Art kreativer Akt. In der klassischen Sichtweise generiert der Innovator eine Idee oder neues Wissen, das ein bestimmtes Problem löst, eine bestehende Lösung anpasst oder ein Bedürfnis der Nutzer:in befriedigt.
Damit es sich um eine Innovation handelt, muss diese Idee in ein innovatives Artefakt umgesetzt werden, z. B. in ein neuartiges Produkt oder eine neuartige Dienstleistung, Technologie oder Therapie, und sich auf dem Markt bewähren. In diesem Blogbeitrag möchten wir uns auf den ersten Teil dieses Prozesses konzentrieren, das sogenannte Front-End der Innovation: die Konzeption und Entwicklung einer kreativen Idee.
Wenn Sie über Ihre persönlichen Erfahrungen in diesem Bereich nachdenken, werden Sie vielleicht feststellen, dass der klassische Ansatz für Kreativität und die Schaffung von etwas Neuem auf zwei Annahmen beruht.
Die erste Annahme ist, dass etwas Neue aus der Rekombination von bestehenden Einheiten oder Wissen resultiert. Mit anderen Worten: Die meisten Innovationen entstehen dadurch, dass man bestehende Konzepte nimmt, sie mit anderen Konzepten kombiniert oder sie in einen anderen Kontext überträgt. Denken Sie an SUVs, Fleischersatzprodukte oder LED-Glühbirnen.
Dies führt zu Innovationen, die meist inkrementell sind, sie optimieren oder passen bestehende Lösungen an, sie sind von Natur aus problemlösend, sie sind „mehr vom Gleichen“. Der Grad der Neuartigkeit ist eher begrenzt, denn es handelt sich lediglich um Umgestaltungen bestehender Dinge, die zum großen Teil bereits bekannt sind und erwartet werden.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Art und Weise, wie unser Gehirn funktioniert, uns in unseren Denkschablonen und mentalen Kategorien gefangen hält, egal wie sehr wir uns bemühen, über den Tellerrand hinauszuschauen. Erkenntnisse aus der Neuro- und Kognitionswissenschaft besagen, dass unser Gehirn einer vorausschauenden Dynamik folgt und sein eigenes Wissen auf die Welt projiziert, anstatt offen für Neues und unerwartete Phänomene zu sein. Dies wird in der Kognitionswissenschaft als “Predictive Mind Hypothesis” bezeichnet. Ist es Ihnen schon einmal gelungen, Ihre bestehenden Denkmuster hinter sich zu lassen und sich etwas völlig Neues einfallen zu lassen, indem Sie einfach nachdachten?
Die zweite Annahme ist, dass diese neu kombinierten neuen Ideen dann durch das Verhalten des Innovators und den Einsatz von Werkzeugen in die Realität umgesetzt werden. Mit anderen Worten: Die Welt wird nach diesen Ideen umgestaltet, ohne wirklich zu berücksichtigen und zu respektieren, was die Realität eigentlich ist und dem kreativen Geist „sagen“ will.
In vielen Fällen führt dies zu Innovationen, die nicht zur Welt, zum Markt oder zu den Bedürfnissen der Benutzer:innen passen und im Allgemeinen keinen wirklichen Zweck erfüllen. Denken Sie zum Beispiel an die zahllosen, völlig nutzlosen Apps für Smartphones, die nur darauf abzielen, unsere Aufmerksamkeit zu erregen und unser Leben und unsere persönlichen Daten zu stehlen.
Wenn also klassische Kreativitätstechniken oder Design Thinking Ansätze im Zusammenhang mit radikalen oder zukunftsorientierten Innovationen aus den oben genannten Gründen eher schlecht abschneiden, was sind dann die Alternativen? Wie können wir aus diesem Teufelskreis der eingeschränkten Kreativität ausbrechen? Was muss sich in unserem Verständnis und unseren Prozessen von Innovation und Kreativität ändern?
Was die Welt uns über das radikale Neue und die Zukunft lehren kann
Wir laden Sie nun ein, Ihre Annahmen über Innovation und Kreativität zu überdenken und zu hinterfragen. Genauer gesagt schlagen wir vor, die Annahme zu hinterfragen, dass die Umwelt bei solchen Prozessen eine eher passive Rolle spielt.
Was ist damit gemeint? Wie wir gesehen haben, geht der klassische Ansatz davon aus, dass Innovation dadurch entsteht, dass man der Welt eine Idee aufzwingt und sie entsprechend der vorgefassten Meinung des Schöpfers oder der Schöpferin umgestaltet. Wir schlagen vor, diese Vorstellung in Frage zu stellen, wonach die Quelle des Neuen allein im Kopf des Innovators und seiner Fähigkeit liegt, bestehende mentale Repräsentationen zu einer kreativen oder neuartigen Idee zu rekombinieren.
Anstatt unsere eigenen Ideen auf die Welt zu projizieren und sie ihr aufzuzwingen, schlagen wir vor, die Perspektive eines Schöpfers oder einer Schöpferin einzunehmen, der oder die mit seiner Umgebung interagiert und sich auf sie einlässt, wie es der enaktive Ansatz der Kognitionswissenschaft nahelegt. Denken Sie an Ihren eigenen kreativen Prozess. Versuchen Sie nicht gerade durch die aktive Auseinandersetzung mit der Welt, dieser einen Sinn zu geben und neue Möglichkeiten zu entdecken, die Sie inspirieren, anstatt nur abstrakt über die Welt nachzudenken?
Wer ist der oder die Urheber:in von Innovationen?
Was verstehen wir unter „sich mit der Welt auseinandersetzen“? In erster Näherung könnte das bedeuten, ethnografische Nutzer:innenforschung zu betreiben oder einige Eigenschaften oder Funktionalitäten eines Phänomens zu beobachten, wie es z.B. von nutzer:innenzentrierten Designansätzen vorgeschlagen wird.
Obwohl dies wichtig ist, sollten wir uns davor hüten, die Auseinandersetzung mit der Welt auf diese Art von Aktivitäten zu reduzieren, denn sie sind nur ein Teil der Geschichte. Sie gehen nicht weit genug, weil sie nicht wirklich aufzeigen, was potenziell radikal neu ist. Sie bleiben in der klassischen Logik stecken, unsere eigenen kreativen Ideen oder Erwartungen auf die Welt zu projizieren, und berücksichtigen nicht die ganze Bandbreite der zukünftigen Möglichkeiten, die sich ergeben könnten.
Was wir brauchen, ist eine völlig andere Einstellung. Anstatt uns an unsere eigenen Ideen zu klammern, müssen wir unsere Annahmen über Kreativität ändern und eine Haltung radikaler Offenheit einnehmen. Erstens müssen wir erkennen, dass die Quelle der Neuheit nicht mehr ausschließlich im Kopf des Innovators liegt, sondern „da draußen“ in der Welt zu finden ist.
Wir müssen die Rolle der Umwelt neu überdenken. Sie empfängt nicht mehr passiv neue Formen nach den Vorstellungen des Schöpfers oder der Schöpferin, sondern übernimmt eine aktive Rolle im Prozess der Schaffung von Neuem. Es findet also eine Umkehrung des kreativen Schaffens oder der Urheberschaft statt, da die Quelle des Neuen meistens in der Umwelt und nicht im Kopf des:r Kreativen liegt.
Das bedeutet, dass Innovation und Kreativität zu etwas werden, das eine Person erlebt, anstatt es zu tun. Wir müssen unsere Aufmerksamkeit auf eine sich entwickelnde Welt richten, indem wir uns der Ungewissheit und dem noch Unbekannten öffnen und hingeben.
Wir denken nicht in erster Linie über Innovation nach, sondern wir denken mit und durch die materiellen Dinge der Welt, indem wir uns aktiv mit ihnen auseinandersetzen und sie erschaffen. Anstatt Variationen und Neukombinationen bereits bekannter Lösungen für ein bestimmtes Problem vorherzusagen und zu testen, verlagert sich der Fokus auf das, was wir nicht vorhersagen können, auf das, was noch nicht bekannt ist, und auf die Schaffung von neuen Nischen.
Dies führt zu einem neuen Verständnis des Innovationsprozesses, bei dem wir die Welt beeinflussen und gleichzeitig von ihr beeinflusst werden, und zwar auf eine zirkuläre Art und Weise, die Entdeckung und Gestaltung miteinander verschränkt. Dies wird erreicht, indem wir durch die aktive Auseinandersetzung mit der Welt etwas Neues schaffen. Kreatives Handeln bedeutet, dass die Dynamik der Welt Neues hervorbringt, ergänzt durch unsere kreativen Interventionen, die das, was entstehen will, respektieren und fördern.
Potentiale zeigen in die Zukunft und weisen den Weg
Sich auf die Welt einzulassen bedeutet auch, sich auf zukünftige Möglichkeiten zu konzentrieren, anstatt auf bestehende Phänomene und diese durch Kreativitätstechniken oder Out-of-the-Box-Denkübungen zu transformieren.
Anstatt unsere eigenen Ideen auf die Welt zu projizieren, müssen wir sensibel werden für das, was in einer sich entfaltenden Realität entstehen will. Dies führt eine radikale Zukunftsorientierung in Innovationsprozesse ein. Da Potentiale immer auf die Zukunft verweisen, auf das, was „noch nicht“ da ist und was im Werden begriffen ist, können wir uns nicht länger auf Wissen aus der Vergangenheit verlassen, sondern müssen zu einer Haltung der Offenheit für die Zukunft übergehen. Wir müssen uns das aneignen, was man „Zukunftskompetenz“ und „Zukunftsfähigkeiten“ nennt. Wir werden diese im nächsten Blogbeitrag erörtern.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich in einer solchen zukunftsorientierten Perspektive der Innovation sowohl der oder die Schöpfer:in als auch das Geschaffene in einem wechselseitigen Prozess des Reagierens durch Reagieren verändern (und sich gegenseitig verändern).
Das Neue manifestiert sich in Form einer neuartigen Einheit zwischen dem Innovator und seiner Umgebung, indem sie ihre jeweiligen Zukunftspotentiale verwirklichen. Stellen Sie sich als Metapher ein Paar vor, den oder die Schöpfer:in und seine oder ihre Umgebung, die zusammen tanzen. Obwohl sie getrennt sind, bilden sie eine Einheit, indem sie miteinander korrespondieren und auf die Bewegungen des anderen reagieren und so neue Muster zum Leben erwecken, die in den einzelnen beteiligten Systemen nicht zu finden wären.
Dies erfordert nicht nur neue Fähigkeiten und Einstellungen, sondern auch eine Form der persönlichen Transformation. Gleichzeitig werden diese Fragen und Themen normalerweise nicht in der traditionellen Innovationsausbildung gelehrt.
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