Liste der Artikel über unser Leitprinzipien
- Auftakt: Was Organisationen mit lebenden Systemen gemein haben
- Prinzip #1: Radikale Offenheit
- Prinzip #2: Sensing the Core
- Prinzip #3: Verborgene Potentiale erkennen und zum Leben erwecken
- Prinzip #4: Design und Co-creation
- Prinzip #5: Emergenz
- Prinzip #6: Enabling
- Prinzip #7: Learning from the Future as it Emerges
Autor: Markus Peschl und Oliver Lukitsch
Dies ist ein Blogbeitrag in einer Reihe von Artikeln über unsere Leitprinzipien. Wir greifen diese Grundsätze kontinuierlich auf und wenden sie auf uns selbst und andere Organisationen an, die nach tiefgreifenden Innovationen und Veränderungen streben. Diesmal werfen wir einen Blick auf einen Begriff, den wir für das Verständnis der Entstehung von Neuem für wesentlich halten: das Konzept der „Emergenz„.
Woher kommt das Neue?
Andere und wir selbst haben immer wieder gezeigt, dass echte Neuerungen für wirklich radikale Innovationen unerlässlich sind. Wenn sie radikal sein soll, kann die Innovation nicht von dem abgeleitet werden, was heute bereits bekannt ist. Vielmehr muss sie auf neuem Wissen beruhen – Wissen, das noch nicht vorhanden ist, das wir erst durch den Prozess der Innovation ins Leben rufen. Da Innovation jedoch nicht aus bestehendem Wissen extrapoliert wird, können wir nicht einfach mechanistisch oder regelbasiert neues Wissen daraus ableiten. Auch wenn in einigen Fällen neues Wissen aus der Kombination oder Neukonfiguration von bereits vorhandenem Wissen resultieren kann, bleibt die Herausforderung, vor der wir stehen: Woher kommt das (radikal) Neue? Was ist dessen Quelle?
Unsere Antwort darauf ist, dass im Prozess der Wissensgenerierung (radikal) neues Wissen emergiert.
Das Konzept der „Emergenz“ bedeutet hierbei, dass ein System Eigenschaften aufweist, die in seinen einzelnen Komponenten nicht vorhanden sind. Ein klassisches Beispiel ist das so genannte Schwarmverhalten, bei dem ein Schwarm von Tieren (man denke an eine große Gruppe von Vögeln oder Fischen) ein kollektives Verhalten zeigt. Das Interessante daran ist, dass das System als Ganzes (d. h. der gesamte Tierschwarm) kollektive Eigenschaften aufweist, die das Verhalten der beteiligten einzelnen Tiere nicht aufweist. Außerdem gibt es keine zentrale Koordinierungsstelle, die dieses kollektive und oft komplexe Verhalten steuert; es emergiert eben aus der Interaktion der beteiligten Tiere, die ihren lokalen Regeln folgen. In diesem Sinne kann kollektives Verhalten als eine neuartige Eigenschaft betrachtet werden, die bei den Individuen nicht vorhanden war.
Solche (komplexen) Merkmale lassen sich nicht vorhersagen, indem man auf ihnen zugrunde liegenden Teile achtet. Isoliert betrachtet, können wir vielleicht vorhersagen, wie sich die einzelnen Teile (d. h. das einzelne Tier) verhalten, aber wir können dabei nicht das „Gesamtbild“ erfassen.
Das wirklich Neue emergiert
Unser Ansatz zur Innovation, den wir als “Emergent Innovation / leap” bezeichnen, basiert auf der Idee, dass radikal neues Wissen als eine emergente Qualität zu verstehen ist. Was bedeutet das, wenn wir uns eine Organisation genauer ansehen, die sich um die Schaffung von neuem Wissen bemüht, um Innovation zu fördern? Ausgehend von einer Systemperspektive muss eine Organisation als (i) ein soziales System kognitiver Systeme/Akteure betrachtet werden, die miteinander interagieren, und (ii) die gesamte Organisation (genauer gesagt ihre Mitglieder), die mit ihrem externen Umfeld interagiert (seien es ihre Nutzer:innen, soziale Systeme, kulturelle Werte oder Normen, der Markt, neue Technologien, Wettbewerber:innen usw.). Unter Berücksichtigung dessen, was oben über emergente Eigenschaften gesagt wurde, haben wir es hier mit mindestens zwei miteinander verflochtenen Bereichen zu tun, in denen Neues entstehen kann:
- Wie wir in unserem Beispiel des Schwarmverhaltens gesehen haben, kann die Interaktion von Akteuren in einer Organisation zu völlig neuen Erkenntnissen und Einsichten führen, die bei den Einzelnen nicht vorhanden waren. Neuartigkeit entsteht als Ergebnis sozialer Interaktion (z. B. in Innovationsteams).
- Eine zweite Quelle der Neuartigkeit, die wir für ebenso wichtig halten, ist die Umwelt selbst. Genauer gesagt, die Interaktion der Organisation (und ihrer Akteure) mit den latenten Potentialen, die sich in der Umwelt entfalten.
In unserem Ansatz der „Emergenten Innovation“ sind beide Elemente (und ihr Zusammenspiel) für die Entstehung echter Neuerungen von wesentlicher Bedeutung. Es handelt sich um einen echten emergenten Prozess, da weder die Aktivitäten von Einzelpersonen (als Einzelpersonen) noch die Dynamik des Umfelds allein Neues hervorbringen. Das Ergebnis kann nicht auf deterministische Weise vorhergesagt werden, da es sich um ein emergentes Ergebnis gut orchestrierter Interaktionen der beteiligten Teile des Systems handelt.
Ex nihilo – Neues aus dem Nichts?
Dennoch könnte sich die:der Leser:in fragen, ob neues, emergentes Wissen etwas ist, das wir anstreben können, wenn es völlig unvorhersehbar ist? Es scheint beinahe „aus dem Nichts“ zu kommen. Wie können wir zu etwas Wünschenswertem gelangen (z. B. Produkte, Dienstleistungen, die Menschen wirklich brauchen werden)? Wir beantworten diese Fragen auf folgende Weise: Neue, emergente Qualitäten, die in Prozessen der Wissensgenerierung entstehen, sind nicht völlig losgelöst von dem, was bereits vorhanden ist.
(1) Sie entstehen aus einer intensiven Interaktion und tiefen Auseinandersetzung mit dem Objekt oder Gegenstand der Innovation. Das neue, entstehende Wissen, das aus solchen (Wissens- und Innovations-)Prozessen hervorgeht, ist daher Ausdruck eines tiefen und profunden Verständnisses und der Erforschung des Gegenstands und seiner (zukünftigen) Potentiale. Die Interaktionen, die das Entstehen von neuem Wissen ermöglichen, sind selbst hochgradig geschickte Aktivitäten, die ein großes Fachwissen über den Innovationsgegenstand verkörpern.
(2) Gleichzeitig erfordert das Entstehen neuen Wissens, dass wir unsere vordefinierten Wahrnehmungs- und Denkmuster aussetzen oder „auf Eis legen“.
Zusammengenommen ermöglicht dies, dass der Kern eines Innovationsobjekts zutiefst respektiert, aber gleichzeitig auch weiterentwickelt und verändert wird. Denken Sie nur an den ersten iPod. Er respektierte bereits bestehende Gewohnheiten und Arten des Musikkonsums sowie unseren Wunsch nach einem mobilen Erlebnis und erfand dennoch die Art und Weise, wie wir Musik hören, neu, indem er das Erlebnis radikal vereinfachte und es gleichzeitig in eine breitere digitale Plattform (iTunes) einbettete.
Um dergleich zu erreichen, braucht ein Innovationsprozess jedoch einen hochsensiblen Behälter. Wir zeigen Ihnen, warum und wie.
Emergenz ermöglichen
Wie wir gesehen haben, ist es nicht möglich, Prozesse der (emergenten) Wissensgenerierung einfach zu „kontrollieren“, zu planen oder vorherzusagen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Entstehung von neuem Wissen ein zufälliger oder richtungsloser Prozess ist. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess, der sensibel gesteuert werden muss und dessen Gelingen von heiklen Bedingungen abhängt. Damit neues, zielgerichtetes Wissen entstehen kann, müssen „förderliche“ Bedingungen geschaffen werden – oder das, was wir „Enabling Spaces“ nennen. Wir betrachten solche Räume als (organisatorische) Umgebungen, die ermöglichende Bedingungen für das Entstehen von neuem Wissen und in der Folge von radikalen Innovationen bieten.
Solche Räume gewährleisten ein hohes Maß an Vertrauen, eine vorurteilsfreie Umgebung, aber auch physische Merkmale, die kognitive Prozesse „unterstützen“ – Räume, in denen unsere Gedanken von unserer Umgebung aufgefangen und reibungslos an uns zurückgespielt werden können. Wir können auf eine lange Geschichte und tiefgreifende Erfahrung zurückblicken, wenn es darum geht, solche Orte zu designen, entstehen zu lassen und besser zu verstehen.
Obwohl Ermöglichungsräume mehrdimensional sind, wollen wir dennoch ein Beispiel dafür geben, was „Ermöglichung“ in diesem Zusammenhang bedeutet. Eine befähigende soziale Bedingung ist beispielsweise die Art und Weise, wie eine Gruppe mit Wissen umgeht, das gerade erst das Licht der Welt erblickt – Wissen, das im Entstehen begriffen ist. In dieser Phase des Innovationsprozesses ist das Wissen sehr zerbrechlich. Eine unangebrachte Kritik oder ein (soziales) Umfeld, das nicht als vertrauenswürdig empfunden wird, kann neues Wissen und Innovationen im Keim ersticken. Ein förderliches Umfeld muss daher für einen sensiblen sozialen Rahmen sorgen, in dem fragiles Wissen gedeihen und wachsen kann. Dies erfordert aufmerksame Beteiligung, Toleranz, Offenheit für den Dialog und eine starke Bereitschaft, einander zu verstehen. An anderer Stelle mag eine kritische Haltung wichtig sein, aber Missbilligung und Skepsis können erfolgreiche Entwicklungen in dieser Phase untergraben.
Obwohl Enabling Spaces einen zentralen Teil unserer Arbeit in Innovationsprojekten darstellen, kann dieser Blogbeitrag nur einen Ausschnitt dessen wiedergeben, was für “Emergent Innovation” benötigt wird.
Aber lassen Sie uns noch einmal veranschaulichen, wie sich dies in der realen Welt abspielen kann.
Ein Fall von entstehender Innovation
Zur Veranschaulichung bietet sich ein Beispiel aus dem wirklichen Leben an. Ein jüngster Fall ist das Start-up „Parallel Systems“ (https://moveparallel.com), das von dem ehemaligen SpaceX-Mitarbeiter Matt Soule gegründet wurde. Die gennante Innovation wurde im Kontext von Logistik und (Schienen-)Verkehr entwickelt: Das Interessante daran ist, dass sie aufkommende Potentiale aus einer Vielzahl unabhängiger Bereiche überspannt und in ein einheitliches und vielversprechendes Konzept integriert; diese Bereiche reichen von neuartigen Ansätzen in der Logistik, Technologien aus autonomen Fahrzeugen, Elektrofahrzeugen, selbstorganisierenden Systemen, einer effizienteren Nutzung der Schieneninfrastruktur bis hin zu Klimafragen bis hin zu einem neuen Verständnis des klassischen Gütertransports mit langen Zügen.
Die Schlüsselinnovation ist ein modularer, elektrisch angetriebener Satz von Zugrädern, der sich autonom, aber auch durch flexible Ausrichtung mit anderen Modulen bewegen kann. Dies hat mehrere Vorteile, denn die Zugmodule können spät bremsen, sich an einer Kreuzung trennen, um den Verkehrsfluss zu erhöhen, sie können Lastwagen ersetzen, mehr Ladung befördern und vor allem sind sie einfacher zu bauen als autonome Autos/Lastwagen. Sie sind eine intelligente, hochflexible Neuerfindung der Art und Weise, wie der Schienengüterverkehr funktionieren soll.
Warum ist dies ein Fall von „Emergenter Innovation“? Das Unternehmen Parallel Systems hat entscheidende Expert:innen auf dem Gebiet des Eisenbahnverkehrsmanagements zusammengebracht und die wichtigsten Stärken und Schwächen des Eisenbahnverkehrs (z. B. dass lange Züge auf kurzen Strecken ineffizient sind) erforscht und mit der Automobilexpertise von Tesla sowie einem tiefen Verständnis für Umweltfragen, Netzdynamik, Geschäftsprozessmanagement und Logistik kombiniert. Die Erschließung des Zukunftspotentials dieser Erkenntnisse und ihre Integration haben zu einem völlig neuen und zukunftsorientierten Verständnis des Schienengüterverkehrs geführt, das den unterschiedlichsten Bedürfnissen gerecht wird.
Wie Sie sehen, emergierte die Idee einzigartiger, flexibler On-Rail-Module aus dem Zusammenspiel verschiedener Disziplinen und basierend auf einem tiefen Verständnis dessen, was Verkehr im 21. Jahrhundert bedeutet und in Zukunft bedeuten könnte. Nur weil verschiedene Subsysteme (wie Ingenieur:innen, Verkehrsplaner:innen und Eisenbahnstrateg:innen) zusammenarbeiten konnten und dabei ein tiefes Verständnis der zugrunde liegenden Materie entwickelten, konnte etwas emergieren, das mehr ist als die Summe seiner Teile.
Das Beispiel zeigt auch, dass radikale Innovation eine neuartige und intelligente Kombination oder Konfiguration bereits vorhandener Technologien bedeutet. In diesem Sinne entsteht die Neuheit nicht einfach aus dem Nichts, sondern durch die Vergrößerung des Potentials, das den vorhandenen Artefakten bereits innewohnt.
Wohlgemerkt ist Parallel Systems bisher noch ein Startup und hat bisher keine Einnahmen erzielt. Wir wollten jedoch zeigen, dass leistungsstarke, überraschende und doch tief bedeutsame Ideen als Ergebnis emergenter Innovationsprozesse geboren werden können.
Hier können Sie sich übrigens selbst ein Bild von Parallel Systems machen:
leap: Lebendige Innovation
Wie wir bereits eingangs erwähnt haben, ist die Erkenntnis, dass radikale Innovationen aus Wissensprozessen emergiert, ein wesentlicher Eckpfeiler unserer Innovationsprojekte und die Grundlage unserer leap-Innovationstechnologie. leap ist ein bewährter, strategischer Innovationsprozess, der es Unternehmen ermöglicht, überraschende und dennoch sinnvolle Innovationen hervorzubringen. Es gäbe noch viel mehr über leap zu sagen und darüber, was es für Ihre Innovationsreise bedeuten würde – wenn wir also Ihr Interesse geweckt haben, tauchen Sie hier einfach ein wenig tiefer ein. Oder abonnieren Sie unseren Newsletter, der Sie alle zwei Monate mit unseren neusten Blogposts und Geschichten versorgt!
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Image by Saad Salim / Unspash