Authoren: Oliver Lukitsch, Thomas Fundneider
Seit einiger Zeit sind wir Zeug*innen eines tiefgreifenden Wandels unserer Lernlandschaften, insbesondere unserer Hochschulen. Die Bedeutung von Generalist*innen hat ab- und die der Expert*innen zugenommen, wir sind mit einem exponentiellen Wissenszuwachs konfrontiert und das gesammelte Wissen ist uns durch die Digitalisierung zugänglicher als je zuvor.
Man könnte auch sagen, wir befinden uns im Zeitalter des ubiquitär zugänglichen Wissens. Dies hat bereits jetzt und wird wahrscheinlich in Zukunft noch größere Bedeutung haben und unsere Art zu lehren und zu lernen an unseren Hochschulen maßgeblich beeinflussen.
Der Kern dieser Entwicklung ist die sich abzeichnende Möglichkeit, dass wir Wissen nicht mehr „internalisieren“, d.h. auswendig lernen müssen. Das scheint angesichts der Menge des verfügbaren Wissens geradenach willkürlich. Umso wichtiger scheint es, die Fähigkeit zu trainieren, Wissen und verfügbare Informationen kritisch zu bewerten und vielmehr für die Entscheidungsfindung und Reflexion nutzbar zu machen. Vielleicht weil man sich über die Bedeutung dieses Themas schon immer einig war (und ist), liegt der Schwerpunkt heute auf den Möglichkeiten digitaler Werkzeuge, die uns schnell und reibungslos mit Informationen versorgen können. Im Mittelpunt stehen hier in erster Linie die intelligente, digitale Bereitstellung von Wissen. In Anbetracht der Tatsache, dass Wissensarbeiter*innen tagtäglich schnell auf eine ständig wachsende Wissensbasis zugreifen müssen, scheint dieser Schwerpunkt auch vernünftig gesetzt zu sein.
Die Digitalisierung unserer Wissensökonomie bedeutet auch, dass unsere Visionen von der Zukunft unserer Bildungslandschaften sich vornehmlich in Visionen von virtuellen Räumen erschöpfen. Nach dieser Vision wird der physische Raum weiterhin benötigt, aber er wird zu einer basalen Infrastruktur degradiert, die für sich genommen keine primäre Bildungsfunktion erfüllt. Das Zeitalter des allgegenwärtig zugänglichen Wissens scheint den physischen Raum in den Hintergrund zu drängen.
In diesem Blogbeitrag wollen wir zeigen, dass wir diese Entwicklung nicht nur kritisch beobachten, sondern auch die wesentliche Bedeutung der physischen, gebauten Umgebung für Bildungsräume hervorheben müssen. Unser Standpunkt ist folgender: “Smarte” Wissenstechnologien werden dazu führen, dass jene menschlichen Kompetenzen wichtiger werden, die nicht in den digitalen Bereich ausgelagert werden können. Aber gerade diese Kompetenzen erfordern eine positive Entwicklung der physischen, gebauten Lernumgebung.
In unserem Blogbeitrag geht es darum, zu verstehen, warum dies der Fall ist. Kurz gesagt, cyber-physische Bildungsräume neigen dazu, Wissen als ein Objekt zu behandeln (d.h. ein Objekt wie die physischen Symbole, die wir zur Kodierung von Bedeutung verwenden). Die grundlegendste Form des Wissens ist jedoch nicht in Objekten kodiert, sondern verkörpert. Wissen wird zuallererst durch menschliche Aktivität hervorgebracht und umgesetzt – und kann daher nicht als Objekt behandelt werden, das gespeichert und über den Cyberspace übertragen werden kann. Vielmehr ist menschliches Wissen zutiefst in die physische Umgebung eingebettet und wird durch diese ermöglicht. Doch bevor wir darauf näher eingehen, müssen wir zunächst den Protagonisten unseres Beitrags vorstellen.
Das Wissen hat das Gebäude verlassen
Es ist eines der wichtigsten Merkmale unserer künftigen Lernlandschaften: Wir verwalten nicht nur einen exponentiell wachsenden Wissensbestand. Wir greifen darauf auch nahtloser und schneller zu als je zuvor. Das Wissen der Menschheit ist „ubiquitär verfügbar“ (Friedman et al., 2016).
Zumindest im Prinzip ist das, was wir wissen wollen, nur ein paar Klicks entfernt. Wir können es „googeln“ oder in Wikipedia suchen – und für akademische Zwecke können wir wissenschaftliche Datenbanken mit einem herkömmlichen Browser durchforschen, um nur die bekanntesten Mittel des Wissensabrufs zu nennen. Das heißt nicht, dass wir in der Lage sind, all dieses Wissen zu interpretieren oder zu nutzen. Aber solange wir wissen, wonach wir suchen, können wir es finden.
Eine synergetische Triebkraft für diese Infrastruktur ist natürlich die exponentiell wachsende Menge an Wissen selbst. Ohne digitale Infrastruktur können wir solche Wissensmengen nicht mehr zeitnah verarbeiten, und das gilt für Studierende und vor allem für Forschende und andere Wissensarbeiter*innen.
Außerdem erscheint es als zunehmend willkürlich, zu entscheiden, welche Wissensinhalte wir uns „merken“ sollen. Das sokratische Paradoxon („Ich weiß, dass ich nichts weiß“) ist heute aktueller denn je. Nur klingt es heute weniger wie ein weises Eingeständnis von Unwissenheit.
Die Allgegenwärtigkeit des Wissens ist keineswegs ein überraschendes Merkmal der modernen Wissensarbeit. Sie wird von Lehrenden, Forschenden und Studierenden gleichsam als selbstverständlich angesehen. Bis heute haben die Auswirkungen dieser Entwicklung jedoch die Art und Weise, wie wir lernen oder lehren, noch nicht tiefgreifend verändert. Ein Grund dafür ist, dass wir es heute mehr oder weniger mit der gleichen Art von Schnittstellen zu tun haben, die wir bereits aus der vordigitalen Ära kennen und gewohnt sind. Tatsächlich ist die wichtigste Schnittstelle für die (akademische) Bildung eine nahezu unveränderte Einheit. Seit den Anfängen der Universitäten gilt das Stück Schrift, das Papier, das Buch als Schnittstelle für die Wissensvermittlung. Die digitalen Werkzeuge, die wir jetzt haben, sind nichts anderes als eine Erweiterung des Originals. Im Prinzip ist es völlig gleichgültig, ob wir in einer Bibliothek oder am Computer lernen. Wir lesen und entschlüsseln letztendlich Symbole auf Papier oder auf dem Bildschirm.
Nun werden aber gerade diese Schnittstellen in Zukunft zunehmend in Frage gestellt. Das Aufkommen intelligenter Technologien (d. h. automatisierter Systeme) könnte unsere Lernerfahrung an den Universitäten grundlegend verändern. Sie könnten die Art und Weise, wie wir mit der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Wissen umgehen, grundlegend revolutionieren.
Damit sind wir bei der Vision der Wissenswolke angelangt.
Lernen erlernen: Wie man mit der Knowledge Cloud umgeht
Je mehr unsere Wissensdatenbanken wachsen, desto schneller und reibungsloser, aber auch intelligenter, sollte der Abruf dieses Wissens sein. Friedman et al. (2016) stellen sich daher eine (hypothetische) „knowledge cloud“ vor, einen intelligenten Cloud-Speicher, der das gesamte Wissen eines bestimmten Bereichs enthält, z. B. eine biomedizinische Cloud. Auf Anfrage kann eine solche Cloud jede Art von Information in schriftlicher oder gesprochener Form bereitstellen.
Auf den ersten Blick ähnelt sie Wikipedia – mit einer etwas ausgefeilteren Schnittstelle. Die Vision der Knowledge Cloud ist jedoch radikaler. Wissen in „berechenbarer Form“ (ebd.) kann verwendet werden, um die Frage des Nutzers spontan zu beantworten. So könnte beispielsweise eine Ärztin Ratschläge für die Behandlung ihrer Patient*innen einholen, indem sie der Cloud kontextbezogene Informationen zur Verfügung stellt, während die Cloud eine Behandlung vorschlägt.
Daher verändert die Knowledge Cloud die Art und Weise, wie wir mit Wissen umgehen, grundlegend. Da die Cloud immer in unserer Nähe ist, können wir sie jederzeit konsultieren und zuverlässige Ergebnisse erwarten. Natürlich besteht die Vision nicht darin, die Cloud zu befragen, um Wissen langfristig auswendig zu lernen. Friedman und Kollegen (2016) betonen, dass es auf die Fähigkeit ankommt, zu wissen, was man nicht weiß, die richtigen Fragen zu stellen und Entscheidungen zu treffen, wenn die Cloud widersprüchliche Informationen liefert (und somit unter Unsicherheit zu urteilen und zu handeln). Daher wird der Bildungsschwerpunkt der Zukunft darin liegen, die Schüler*innen darin zu schulen, mit externemWissen umzugehen, ohne, bzw. anstatt es zu internalisieren (d. h. auswendig zu lernen).
Die Entstehung der Knowledge Cloud wird jedoch auch mit einer großen Revolution in der Art und Weise zusammenfallen, wie wir digitale Schnittstellen nutzen. Friedman et al. (2016) stellen sich ihre Wissenswolke als über unsere Smartphones zugänglich vor. Aber unsere Smartphones sind nur ein Kontaktpunkt im wachsenden „Internet der Dinge“ (IoT). Und tatsächlich wird erwartet, dass künftige Lernumgebungen in das IoT eingebettet sein werden.
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Intelligente Lernumgebungen
Dies führt uns zu einer weiteren Entwicklung zukünftiger Lernräume – einer Entwicklung, die sich auf die Art und Weise, wie wir mit der Wissenswolke umgehen, auswirken (und diese verkomplizieren) wird. Die Zukunft der Lernräume wird oft als „intelligente Lernumgebungen“ („smart learning environments“ oder kurz SLEs) bezeichnet. Es gibt unterschiedliche Definitionen dafür, was solche intelligenten Lernräume sind. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie intelligente Sensoren und „Aktoren“ (Geräte, die selbstständig handeln) beinhalten. Solche intelligenten, automatisierten Systeme passen sich an die Lernbedürfnisse ihrer Nutzer*innen an, indem sie beispielsweise deren Fortschritte monitorisieren und entsprechende Informationen rückmelden. Sie zeigen den Schüler*innen ihre Schwächen und ihre Leistungen im Vergleich zu anderen auf und geben ihnen die digitalen Werkzeuge an die Hand, mit denen sie ihre “Schwächen” beheben können. Während einige Definitionen die Technologie betonen, stellen andere den Menschen in den Mittelpunkt. Dementsprechend sollten SLEs Reflexion, Innovation, Gespräche und Selbstorganisation fördern (Gros, 2016). In Anbetracht dessen sind intelligente Lernumgebungen in der Regel sogenannte selbstregulierte Lernumgebungen (SRLs). Ihr intelligentes Design fördert häufig „Zielsetzung, Hilfesuche, Zeitmanagement und Selbsteinschätzung“ (Gambo & Shakir, 2021).
Was bedeuten die SLEs für die Allgegenwärtigkeit des Wissens und damit für die Knowledge Cloud?
Bibliothek 4.0
Noh (2015) lieferte uns eine frühe Vision der Knowledge Cloud, die in WEB 4.0 eingebettet ist. Er stellt sich eine digitale Bibliothek als einen Ort der symbiotischen Mensch-Maschine-Interaktion vor: die Bibliothek 4.0.
Er definierte sie als „intelligent, datenintensiv, Augmented Reality, kontextbewusst, hochmoderne Displays und unendlicher kreativer Raum“ (S. 786, übers.). Das klingt auch heute noch ziemlich visionär. In Anbetracht der uns zur Verfügung stehenden Technologien ist es jedoch nur eine Frage der Zeit und der Investitionen, um es Wirklichkeit werden zu lassen.
Doch bei all dem bleibt eines auffällig. Viele Berichte über intelligente Lernumgebungen haben gemeinsam, dass sie keine klaren Leitlinien dafür liefern, was dies für die gebaute Umwelt bedeutet (Freigang et al., 2018).
Die digital-physische Kluft: oder der Niedergang des physischen Raums?
Auch wenn künftige Lernlandschaften als cyber-physische Räume konzipiert sind und auch wenn die Schnittstellen zunehmend „transparent“ werden, kann man eine eigenartige Vernachlässigung des physischen Raums beobachten. Was vernachlässigt ist (oder vernachlässigt werden wird), ist die Frage, wie der physische Raum den Bedürfnissen von Studierenden in einer Wissenswolke – in einem virtuellen Wissensökosystem – gerecht werden kann.
Heute schenken wir intelligenten Technologien unsere Aufmerksamkeit, aber die physischen Orte, an denen sie sich manifestieren, bleiben eine Leerstelle (die noch mit Bedeutung gefüllt werden muss). Dies kann eine Reihe von Auswirkungen haben. Es eröffnet Designer*innen neue Freiheitsgrade, um physische Räume zu schaffen, die nicht durch physische Artefakte, wie sie in großer Zahl in einer Bibliothek zu finden sind, eingeschränkt werden. Solche Räume müssen nur immerzu kleiner werdende, intelligente Geräte (“smart devices”) aufnehmen – ansonsten sind sie in keiner Weise eingeschränkt. Dies gibt der Designer*in zwar mehr Freiheit, bedeutet aber auch eine Abwertung des physischen Raums als echter physischer Lernraum. Es scheint, dass der physische Raum bei der Betrachtung der Anforderungen von Lernumgebungen „entlastet“ wird. Der virtuelle Raum übernimmt viele seiner Aufgaben vollständig. (Man denke nur an das digitale Klassenzimmer, das im Zuge der Pandemie an Bedeutung gewonnen hat).
Fazit: Die Rede von intelligenten Schnittstellen in cyber-physischen Lernumgebungen lässt vermuten, dass wir es mit einer ganzheitlichen Lösung zu tun haben. Es scheint, dass solche cyber-physikalischen Orte hochgradig integrativ sein werden und dass in ihnen die Grenzen zwischen physischem und digitalem Raum verschmelzen.
Dennoch sind wir weit davon entfernt, uns eine solche „Intimität“ (Haugeland, 1993) zwischen dem digitalen und dem physischen Raum vorstellen oder verstehen zu können. Die Grenzen zwischen der physischen und der digitalen Welt sind fest. Physische und digitale Domänen stehen sozusagen Seite an Seite und geben gewissermaßen sich Raum.
Der Grund dafür ist, dass es bisher an Gestaltungsprinzipien zufehlen scheint, mit denen sich digitale und physische Räume sinnvoll miteinander verbinden lassen. Solche Grundsätze sollten uns bei der Gestaltung physischer Räume leiten, die virtuelle Räume aufnehmen können und vice versa.
Hier stehen wir an einem entscheidenden Scheideweg. Wir könnten physische Räume so gestalten, dass sie digitale Geräte für „intelligentes Lernen“ aufnehmen können. Ein solcher Ansatz hat jedoch bisher keine physischen Gestaltungsprinzipien hervorgebracht. Vielmehr hat er dazu geführt, dass Gestalter*innen von physischen Orten Narrenfreiheit gewährt wird.
Wir schlagen dazu einen Ansatz vor, der ebenso dem Commonsense entspringt, wie menschlich ist. Er ist noch keine Antwort darauf, wie genau die physische Komponente künftiger Bildungslandschaften beschaffen sein wird. Unser Ansatz soll lediglich zeigen, wie man über Bildungsräume nachdenken sollte, um ihre Gestaltung nicht auf unglückliche Weise von den neuen Technologien abzukoppeln.
Unser Ansatz besteht darin, die grundlegendsten Arten des menschlichen Lernens ernst zu nehmen. Wie wir bisher gesehen haben, werden durch intelligente Wissenstechnologien bestimmte menschliche (Lern-)Kompetenzen wichtiger, die nicht in den digitalen Bereich ausgelagert werden können. Und es sind genau diese Kompetenzen, die eine positive Entwicklung der physischen, gebauten Lernumgebung erfordern
Vier Arten des Lernens
Die Art und Weise, wie wir Artefakte (z. B. intelligente Werkzeuge, also “smart tools”) zum Lernen nutzen, hängt in hohem Maße von der Art und Weise ab, wie wir lernen. Um das zu verstehen, sollten wir uns die verschiedenen Modalitäten des Lernens genauer ansehen. Da die Knowledge Cloud (und die Allgegenwärtigkeit von Wissen) ein zentrales Thema dieses Blogbeitrags war, werden wir außerdem untersuchen, wie sich unsere Lernmethoden auf die Art und Weise auswirken, wie wir mit der Knowledge Cloud umgehen.
Lineares Lernen
Lineares Lernen ist das, was wir tun, wenn wir uns den medizinischen Begriff eines bestimmten Muskels oder das Datum eines historischen Ereignisses einprägen. In der Vergangenheit haben Studierende ihre Lehrbücher konsultiert, um sich die gewünschten Informationen einzuprägen. Das Nachschlagen in der Knowledge Cloud zum Zwecke des linearen Lernens ist also eine stark vereinfachte, reibungslose Version des Nachschlagens von Informationen in einem Buch. Nur mit Hilfe der Knowledge Cloud wird die Suche nach Informationen zu einem äußerst bequemen und „smarten“ Prozess.
In Anbetracht der allgegenwärtigen Verfügbarkeit von Wissen verliert das lineare Lernen (als menschliche Fähigkeit) immer mehr an Bedeutung. Es gibt zu viel Wissen, das verinnerlicht werden muss, so dass es immer sinnvoller wird, Fakten in die Cloud auszulagern und bei Bedarf darauf zuzugreifen.
Auf der Ebene des linearen Lernens ist die Vision einer Knowledge Cloud besonders eindringlich. Denn die Vision ist, dass lineares Lernen entlastet werden kann, indem wir uns weniger merken müssen. Für den Kognitionswissenschaftler und Philosophen Andy Clark würde uns das zu Cyborgs machen, deren Faktenwissen an eine Maschine ausgelagert wird.
Noch wichtiger ist, dass die Knowledge Cloud nicht nur lineare Lernsysteme entlastet. Sie erhöht damit auch die Bedeutung anderer Formen des Lernens.
Doch während die Wissenswolke lineares Lernen unterstützen (und sogar ersetzen) kann, wurde bisher nicht dargelegt, wie sie anderen, grundlegenderen Formen des Lernens dienen könnte. Der Grund dafür ist, dass die im Folgenden beschriebenen Formen des Lernens stark verkörpert sind und physische Handlungen und Interaktionen im materiellen Raum betonen.
Man kann es auch so ausdrücken, dass lineares Lernen Wissen als Daten behandelt, die in physischen Symbolen gespeichert sind (d. h. die Symbole, die als auf unseren digitalen Geräten gesichert vorliegen). Es behandelt Wissen als ein Objekt. Das menschliche Wissen ist jedoch viel umfassender und muss in seiner ursprünglichsten Form als ein verkörperter Prozess oder eine Aktivität verstanden werden. Wissen wird aktiv herbeigeführt oder hervorgebracht („enacted“).
Single Loop Learning
Das Single-Loop-Learning ist die einfachste Form des Lernens (noch einfacher als das lineare Lernen). Wir können es beobachten, wenn ein Kind laufen oder wenn es ein Instrument spielen lernt. Lernen ist in diesem Fall eine körperliche („sensomotorische“) Interaktion mit der physischen Welt.
Um dies zu veranschaulichen, denken Sie an ein Elternteil, das seinem Kind das Fahrradfahren ohne Stützen beibringt. Es geht dabei nicht darum, dem Kind die Schritte zu erklären, sondern um die körperliche Interaktion zwischen Eltern und Kind.
Es ist viel schwieriger, sich vorzustellen, welche Rolle eine Wissenswolke in genannten Fall spielen kann. Und hier fangen die Dinge auch an, interessant zu werden. Es könnte zwar eine verkörperte Interaktion mit der Knowledge Cloud geben, aber es wurde noch nichts darüber gesagt, wie eine solche Interaktion überhaupt ablaufen könnte.
Im Kontext der tertiären Bildung ist das Single-Loop-Learning offensichtlich für die (analogen) Künste oder Sportarten und Bereiche der Medizin, die körperliche Fertigkeiten erfordern, relevant. Es ist aber auch für die Vermittlung rein „kognitiver“ oder mentaler Fähigkeiten relevant. Man denke nur an die „körperlichen“ Begleiterscheinungen des Lehrens, z.b. beim Vorrechnen an der Tafel. Es gibt ein interaktives Hin und Her zwischen Lehrer*in und Lernenden, das so lange andauert, bis der Prozess schließlich so stabil geworden ist, dass er vom Lernenden selbständig durchgeführt werden kann.
Single-Loop-Learning ist ein Prozess, den wir normalerweise implizit als Mittel zum Lehren und Lernen akzeptieren. Dennoch scheint es, dass eine Knowledge Cloud bisher nicht im Zusammenhang mit dieser verkörperten Art des Lernens gedacht wurde.
Damit das Single-Loop-Learning erfolgreich ist, müssen die physischen Räume komplexe Anforderungen erfüllen. Sie müssen nicht nur die erforderliche physische Interaktion unterstützen. Single-Loop-Learning ist auch ein sozial sensibler Prozess. Andere Menschen spielen eine unterstützende, aktivierende Rolle, wobei ihre unachtsame Anwesenheit den Lernenden auch entmutigen kann. (Man denke nur an den Demonstrationseffekt.)
Single-Loop-Learning könnte eine großartige Möglichkeit sein, intime cyber-physische Lernräume zu schaffen, in denen smarte Werkzeuge physisches Handeln ermöglichen. Allerdings ist Single-Loop-Learning ein stark verkörperter und sozial interaktiver Prozess, der nicht vollständig in die virtuelle Welt verlagert werden kann. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, dass wir physische Räume für digital erweitertes Single-Loop-Lernen schaffen.
Double Loop Learning
Beim Double-Loop-Learning wird davon ausgegangen, dass das Wissen in einen Bezugsrahmen eingebettet ist. Wenn man zum Beispiel lernt, wie man ein Instrument spielt oder eine medizinische Operation durchführt, hinterfragt der Lernende normalerweise nicht, wie man es macht. Wenn er unterrichtet wird, nimmt er in der Regel an, dass dies die „richtige“ Art und Weise ist, es zu tun. Beim Double-Loop-Learning geht es darum, solche selbstverständlichen Annahmen zu hinterfragen. Wir bilden Annahmen auf Grundlage unserer Interaktionen mit der Umwelt, durch kulturelle Lernprozesse, Bildung usw. (Im oben beschriebenen Fall könnte die Annahme sein, dass ein erfahrener Lehrer weiß, wie es geht, und dass er nicht in Frage gestellt werden darf).
In den meisten Fällen sind solche Annahmen nicht explizit. Sie bestimmen, wie wir lernen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Wir können jedoch unsere impliziten Annahmen ändern, wenn wir in der Lage sind, uns der Reflexion und dem Hinterfragen zu öffnen. Dazu gehört oft, dass man sich (sehr vertrauenswürdigen) „Peers“ öffnet, um gemeinsam die eigenen verborgenen Annahmen zu erkunden.
Double-Loop-Learning zielt darauf ab, Annahmen nicht nur explizit zu machen, sondern sie auch systematisch zu verändern. Dadurch entsteht ein neuer Bedeutungsraum, in dem bereits bekannte Phänomene aus einer neuen Perspektive betrachtet werden können.
Um auf unser obiges Beispiel zurückzukommen, die Interaktion zwischen Eltern und Kind: Ein Kind durchläuft den Prozess Double-Loop-Learning, wenn es die Annahmen in Frage stellt, auf denen die Lernprozesse der ersten Ordnung zunächst beruhen. Ein Beispiel dafür wäre, wenn ein Kind lernt, dass Eltern nicht alles richtig machen und fehlbare Wesen sind – mit anderen Worten, wenn Kinder die Autorität ihrer Eltern in Frage stellen und dadurch eine völlig neue Sicht auf die Welt gewinnen.
Auf den ersten Blick scheint die Knowledge Cloud nicht in der Lage zu sein, das Double-Loop-Learning zu erleichtern. Es ist in der Tat schwer vorstellbar, wie die Interaktion mit der Knowledge Cloud uns dabei helfen könnte, unsere Annahmen zu hinterfragen. Schließlich arbeitet sie nur mit explizierbaren Informationen, bzw. speichert diese. Das Wissen, das wir durch Double-Loop-Learning generieren oder verändern, ist jedoch in hohem Maße implizit. (Und selbst wenn die Cloud in der Lage wäre, uns auf versteckte Annahmen und Vorurteile aufmerksam zu machen, gibt es ethische Bedenken, ob sie eine solche Fähigkeit haben sollte).
Die Knowledge Cloud macht es daher fast unumgänglich, dass wir die Fähigkeit der Studierenden schulen, ihre impliziten Annahmen zu hinterfragen. Schließlich wird dies eine zunehmend wichtige Fähigkeit sein, um die Knowledge Cloud verantwortungsvoll zu nutzen. Double-Loop-Learning bedeutet, die Zuverlässigkeit einer Quelle und ihren Bezugsrahmen zu hinterfragen. Und diese Fähigkeit wird angesichts der radikalen Verfügbarkeit von ständig wachsendem und sich veränderndem Wissen unverzichtbar sein
Was bedeutet dies für unsere physischen Räume? Physische Lernräume, die das Double-Loop-Learning unterstützen, müssen „sozio-epistemologische“ Räume sein, die komplexe Anforderungen erfüllen: Sie müssen die Erkundung impliziter Annahmen ermöglichen. Um dies zu erreichen, muss man mit vertrauenswürdigen Peers in einer vertrauenswürdigen Umgebung interagieren. Die Basis des Vertrauens wächst jedoch zuallererst durch unsere verkörperten Interaktionen in physischen Räumen. Sie wird in kleinen (oft unbedeutenden) Treffen und Begegnungen aufgebaut, die in der kontrollierten Umgebung unserer virtuellen Welten kaum stattfinden. Ist das Vertrauen erst einmal aufgebaut, kann man die Offenheit fördern, die die Lernenden brauchen, um ihre impliziten Annahmen auf interaktive Weise zu hinterfragen.
Triple Loop Learning
Damit sind wir bei der höchsten Ebene des Lernens angelangt. Während Single- und Double-Loop-Learning in erster Linie auf Veränderungen auf der kognitiven und affektiven Ebene abzielt, konzentriert sich das „Triple-Loop-Learning“ nach Markus Peschl (2007) auf die „existenzielle“ Ebene und damit auf die Person (und ihre einzigartige Identität). Es zielt darauf ab, zu verändern, wer wir sind. Während dies für einige wie ein fast spirituelles Unterfangen klingen mag, kann es auch als höchster Bildungsauftrag der Universitäten betrachtet werden. In der Tat wird den modernen Universitäten oft vorgeworfen, dass sie die Studierenden „ausbilden“, anstatt sie zu „bilden“. Damit vernachlässigen sie oft die Ziele des Humboldt’schen Hochschulmodells, das fordert, dass die Universitäten die Studierenden befähigen sollen, ihren Charakter zu kultivieren, und zwar auf autonome Weise.
In Anbetracht dessen geht es beim Triple-Loop-Lernen nicht in erster Linie um die Vermittlung neuer Fähigkeiten oder Kenntnisse, sondern um die Ermöglichung persönlicher Veränderungen und persönlichen Wachstums. Beim Triple-Loop-Lernen geht es um Werte, Einstellungen und den tiefgreifenden „Habitus“ der Person. Es ist die schwierigste Art des Lernens, da sie zutiefst persönlich ist und allem voran „von einem selbst“ handelt.
Um auch aufzuzeigen, warum diese Art des Lernens auch in der Arbeitswelt an Bedeutung gewinnen wird: Triple-Loop-Learning ist z.B. für Führungskräfte besonders wichtig, denn nur wer sich selbst gut kennt, kann sich als Führungskraft bestmöglich entwickeln und, indem er offen für seine Potenziale bleibt, auch zum Nutzen seiner Mitarbeiter und der Organisation.
Dennoch könnte man das Triple-Loop-Learning als eine gefährdete Spezies betrachten. In einer akademischen Welt, in der Geschwindigkeit und Produktivität gewissermaßen obligatorisch sind, genießt die persönliche Veränderung vielleicht nicht die höchste Priorität. Triple-Loop-Lernen ist zudem eine Form der kognitiven Immersion, die den oben erwähnten „intelligenten Lernumgebungen“ zuwiderläuft. Letzteres wird jedoch durch das Aufkommen der Knowledge Cloud beschleunigt werden. Umso wichtiger wird es sein, entschleunigte und freimachende Räume für das Triple-Loop-Lernen zu schaffen, die mit dem schnelllebigen digitalisierten Umfeld der Knowledge Cloud koexistieren können. Um die cyber-physischen Räume, die Lernlandschaften der Zukunft zu schaffen, wird es daher noch wichtiger, physische Refugien zu gestalten, in denen wir der Schnelllebigkeit unserer Welt entfliehen können, um uns ganz uns selbst zu widmen.
Abschließend lässt sich sagen, dass wir den Trend beobachten, dass zukünftige Lernräume als cyber-physische Räume konzipiert werden, die mit Smart Devices (also intelligenten Geräten) für das Lehren und Lernen ausgestattet sind. Bislang ist jedoch nur die digitale Ausstattung solcher Räume von Interesse. Physische Räume werden lediglich als Appendix behandelt, der frei jeglicher Zwänge gestaltet werden kann.
Betrachtet man jedoch die Art und Weise, wie wir lernen, so wird deutlich, dass wir die physische und bauliche Umgebung nicht außer Acht lassen dürfen. Ein wesentlicher Teil unserer Lernfähigkeit basiert auf materiell-körperlichen Interaktionen, oft in Anwesenheit anderer Studierenden und Lehrenden. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass wir zunächst verstehen, wie und wo intelligente Werkzeuge wie die Knowledge Cloud diese Art des Lernens unterstützen (oder untergraben) können. Daraus ergibt sich eine Fülle unterschiedlicher Rahmenbedingungen für die Gestaltung von physischen Räumen, die wirklich ausgewogene cyber-physische Lernlandschaften wären – Räume, die den tiefsten verkörperten Anforderungen der Lernenden gerecht werden.
Um auch auf unsere eigene Erfahrung zu verweisen: Unsere Enabling Spaces-Technologie verfolgt seit jeher das Ziel, die Kernprozesse einer Institution, einer Organisation, eines Unternehmens zu verstehen und ihre Räume so zu gestalten, dass sie genau diese Kernprozesse ermöglichen. Angesichts der Herausforderungen zukünftiger Lernräume (die gebaute Umgebung von Bibliotheken und Universitäten) ist unser Toolkit besonders gut geeignet, um die physischen Räume zu gestalten, die unsere Lernfähigkeiten benötigen, um das Potenzial des Digitalen nachhaltig zu nutzen. Ein Grund dafür ist, dass unser Verständnis von Wissen seit jeher davon ausgeht, dass der Ursprung menschlichen Wissens nicht in Objekten (d. h. Symbolen und Daten), sondern im menschlichen Handeln liegt.
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Wir sind ein multidisziplinäres Team mit über 20 Jahren Erfahrung in der Gestaltung von Lernräumen für Organisationen. Unsere Kund:innen schätzen den authentischen, zielgerichteten und ko-kreativen Ansatz, den wir in ihre Projekte einbringen. Mit unserem kognitionswissenschaftlichen Hintergrund helfen wir Ihnen, die Bedürfnisse der Menschen zu verstehen.
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Literatur
Clark, A. (2003). Natural-Born Cyborgs: Minds, Technologies, and the Future of Human Intelligence (Issue 450). Oxford University Press.
Freigang, S., Schlenker, L., & Köhler, T. (2018). A conceptual framework for designing smart learning environments. Smart Learning Environments, 5(1), 27. https://doi.org/10.1186/s40561-018-0076-8
Friedman, C. P., Donaldson, K. M., & Vantsevich, A. V. (2016). Educating medical students in the era of ubiquitous information. Medical Teacher, 38(5), 504–509. https://doi.org/10.3109/0142159X.2016.1150990
Gambo, Y., & Shakir, M. Z. (2021). Review on self-regulated learning in smart learning environment. Smart Learning Environments, 8(1), 12. https://doi.org/10.1186/s40561-021-00157-8
Gros, B. (2016). The design of smart educational environments. Smart Learning Environments, 3(1), 15. https://doi.org/10.1186/s40561-016-0039-x
Haugeland, J. (1993). Mind embodied and embedded. In Y.-H. H. Houng & J. Ho (Eds.), Mind and Cognition: 1993 International Symposium. Academica Sinica.
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Peschl, M. F. (2007). Triple-Loop Learning as Foundation for Profound Change, Individual Cultivation, and Radical Innovation: Construction Processes beyond Scientific and Rational Knowledge. Constructivist Foundations.
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