Prinzip #3: Verborgene Potentiale erkennen und zum Leben erwecken

Liste der Artikel über unser Leitprinzipien

Author*innen: Oliver Lukitsch & Markus Peschl

Dies ist ein Blogpost in einer Serie, in der wir Ihnen unsere Leitprinzipien vorstellen – Prinzipien, die wir auf uns selbst und andere Organisationen bei ihrem Streben nach radikaler Innovation und Veränderung anwenden. Dieses Mal werfen wir einen Blick auf ein Kernstück unseres organisationalen Denkens: latente Potentiale.

Versteckt und latent: Zukunftspotentiale

Potentiale sind zunächst einmal schwer zu beschreiben. Das liegt in ihrer Natur. Sie sind latent in unserer Welt (in unseren Organisationen und deren Prozessen) gewissermaßen angelegt. Sie sind vor unserem Blick verborgen, vor allem, wenn wir nicht darauf trainiert sind, sie aufzuspüren. Was sind sie also? Potentiale sind noch nicht realisierte, kaum sichtbare Möglichkeiten. Sie sind Nischen, die ungesehen und unbesetzt sind. Um sie zu erspüren, kann man nicht nur in die Vergangenheit oder in die Gegenwart schauen. Vielmehr kann man sie nur sehen, indem man erlebt, „was entstehen will“. Mit anderen Worten: Man muss „von der Zukunft lernen, wie sie entsteht“.

Solche Potentiale sind essenziell für florierende, radikal neue und sinnvolle Innovationen. Im Folgenden werden wir Ihnen zeigen, warum.

Die (Un-)Berechenbarkeit von radikalen Innovationen

Wenden wir uns zunächst einem wesentlichen Merkmal erfolgreicher und genuin neuartiger Innovationen zu. Oftmals blicken Innovationsprozesse auf die Vergangenheit, um mehr oder weniger eine Version von bereits existierenden Produkten oder Dienstleistungen abzuleiten. Solchen Innovationen fehlt daher das Merkmal wirklicher Neuheit. Sie sind schlichtweg zu erwarten und vorhersehbar.

Das heißt aber nicht, dass erfolgreiche Innovation nur darin besteht, das Unerwartete geleistet oder erschaffen zu haben: Es reicht nicht aus, einfach nur zu überraschen. Die Geschichte der Innovation ist voll von höchst unerwarteten, aber abkömmlichen und entbehrlichen Erfindungen (wohlgemerkt genauso, wie sie auch von zahlreichen Innovationen erzählt, die wir nicht mehr aus unserem Leben wegdenken können).

In Anbetracht dessen ist es umso beeindruckender, dass wirklich erfolgreiche und radikale Innovationen sich anfühlen, als hätten wir sie jeher schon gebraucht, wenngleich wir aber nicht wussten, dass wir sie brauchen würden. Sie kamen gänzlich unerwartet. Dennoch sind sie keine willkürliche Spielerei. Sie sind zutiefst bedeutungsvolle Artefakte und erfüllen menschliche Bedürfnisse, die wir in der Vergangenheit nicht kannten – oder die es in der Vergangenheit gar nicht gab. Sobald radikale Innovationen in Erscheinung treten, fühlen sie sich an, als wären sie da, um zu bleiben. Sie fühlen sich an, als hätten wir sie vorhersehen können und doch überraschen sie uns restlos. Wie also können wir solche Innovationen herbeiführen? Wie kann Innovation zutiefst zielführend und aber zugleich radikal neuartig sein?

Woher kommt die radikale Innovation?

Auch wenn erfolgreiche Innovation kaum vorhersehbar ist, kommt sie nicht aus dem Nichts. Vielmehr entsteht sie aus Zukunftspotentialen. Eine wichtige Erkenntnis ist, dass solche Potentiale dem Vorhandenen gewissermaßen immanent sind. Ein Stück Holz hat zum Beispiel das Potential, ein Tisch oder eine Schale zu werden. Darüber hinaus gewähren uns Potentiale einen tieferen Einblick in das Wesen der Dinge – und ein Verständnis dafür, was aus ihnen entstehen kann. Wenn also Innovation Potentialen entspringt, ist sie nie völlig losgelöst von bestehenden Dingen – und trotzdem radikal neu.  (Ein*e großer Unternehmer*in hat also gerade ein tiefes Gespür für solche Potentiale und erkennt sie früher als andere.)

Philosophisch gesprochen bedeuten Potentiale, dass Dinge (wie Produkte, Dienstleistungen oder ganze Organisationen) eine intrinsische Disposition haben, die sich entfalten kann (aber nicht muss) – wenn dies der Fall ist, würde dies ihre wahre Natur offenbaren. In diesem Sinne unterscheidet Kauffman (2014) zwischen (1) dem, was da ist, und (2) dem, was möglich ist. Er unterscheidet zwischen sogenannten “Actuals” und “Possibles”. Actuals sind Dinge, die bereits da sind. Sie haben sich bereits materialisiert und sind somit (materiell) determiniert. Im Gegensatz zu den Actuals sind die Possibles offen, sich auf verschiedene Arten und in verschiedene Richtungen zu entwickeln. Solche Possibles sind den Actuals inhärent (und latent in ihnen angelegt), aber auch abhängig von der Umgebung des Actuals.

Was auch an dieser Stelle relevant ist: Radikale Innovation besteht nicht aus etwas, das die Welt noch nie gesehen hat. Vielmehr basiert sie auf einer intelligenten und stimmigen, aber unerwarteten Integration von (teilweise) bestehenden Elementen. (Man denke nur an Apples iPhone oder den App Store.)

Potentiale sind latent

Die Tatsache, dass Potentiale in gewissem Maße in bereits existierenden Dingen enthalten sind, macht sie jedoch nicht unbedingt sichtbar. Vielmehr sind Potentiale vor dem Auge der Betrachter*in verborgen. So wie wir eine Schale oder einen Tisch in einem rohen Stück Holz vielleicht nicht sehen können, kann es auch schwer sein, Potentiale zu erahnen. Ein weiteres Beispiel ist die Skulptur David von Michaelangelo. Michaelangelo soll dazu folgendes gesagt haben: „Der David steckte von Anfang an in dem Marmorblock. Ich habe nur entfernt, was nicht dazu gehörte“ Genau diese Fähigkeit, David zu sehen, wo andere nur ein Stück Stein sahen, zeichnet den tief blickenden Künstler aus – aber auch weitblickende Unternehmer*innen.

Deshalb spricht man von „latenten“ Potentialen. Die Herausforderung besteht also darin, (a) diese verborgenen Potentiale zu identifizieren und (b) sie auf eine nicht aufdringliche Weise zu kultivieren, damit sie sich zu interessanten und sinnvollen Innovationen entwickeln können.

Im Folgenden werden wir Ihnen zwei Dinge zeigen. Wir werden Ihnen einige reale Beispiele für Potentiale vorstellen, um sie greifbarer zu machen und wir werden Ihnen dann zeigen, wie man Potentiale „erspüren“ kann, auch wenn sie vor den Augen der Betrachter*in verborgen sind.

Realitätsnahe Fälle von Potentialen

Bisher war unsere Darstellung von Potentialen recht abstrakt. Lassen Sie uns ein Beispiel aus der Praxis schildern. Denken Sie an das Internet. Lange Zeit war das Internet eine Anhäufung von Websites und die Infrastruktur zur Kommunikation per E-Mail. Obwohl es sehr nützlich ist, argumentierten einige, dass das Internet eine Randerscheinung bleiben würde, die sich nicht durchsetzen könne- und sich nicht zu einem Massenmedium entwickeln werde.

Dennoch war das Internet mit latenten Potentialen ausgestattet, die unser Leben tiefgreifend veränderten, sobald sie entdeckt wurden. Eines dieser Potentiale realisierte sich durch die Entstehung der sozialen Medien. Das Internet bot die technologischen Mittel, um Milliarden von Menschen miteinander zu verbinden. Aber es erregte zunächst nicht das Bedürfnis der Menschen, sich auf diese zutiefst soziale und interaktive Weise über das Internet zu begegnen. Die technologische Grundlage des Internets allein reichte nicht aus, um ein solches Bedürfnis zu schaffen. Vielmehr bedurfte es der Unternehmer*innen, die diese radikale Konnektivität als Potential erkannten, sie kultivierten und ihr zum Durchbruch verhalfen. Sie schufen Social-Media-Plattformen, die von dem Potential des Internets lebten, Menschen auf zutiefst sinnvolle Weise zu verbinden.

Eine überzeugende Erfolgsgeschichte aus dem Getränkemarkt ist die Marke Bionade. Das Produkt ist eine echte Innovation und greift die Gesundheitsorientierung der Verbraucher*innen auf, ohne ausdruckslos oder belehrend zu sein. Vor der Einführung von Bionade experimentierte ihr Hersteller, eine kleine, kurz vor der Pleite stehende Brauerei in Bayern, mit Zutaten ihrer bereits bestehenden Produkte. Das Ergebnis war ein alkoholfreies, biologisches, fermentiertes Getränk, das in einer ganz neuen Nische Fuß fassen konnte. Da der Zeitgeist der frühen 90er Jahre bereits die Bedeutung von Bio-Produkten und die zunehmende Relevanz von körperlicher Fitness und Gesundheit erkannte, barg der Markt bereits das Potential für Bionade in sich.

Während dies eindeutig großartige Erfolgsgeschichten sind, ist die Frage, wie man solche erfolgreichen Innovationen proaktiv ermöglicht. Und wie man solche Potentiale überhaupt identifiziert und erkennt.

Wie erspüren Unternehmen Potentiale?

Man kann Potentiale nicht einfach aufdecken und erschließen, indem man unbändige Brainstorming-Sitzungen (Paulus, Dzindolet, & Kohn, 2012) oder „out-of-the-box-thinking“-Übungen durchführt. Stattdessen sind wir davon überzeugt, dass man Potentiale (die teilweise bereits vorhanden sind, auch wenn sie vielleicht nicht offensichtlich sind) identifizieren, gründlich untersuchen und verstehen muss.

Wiederum ist ein Potential subtil und „unter der Oberfläche“ dessen, was bereits wahrgenommen werden kann. Um es zu aufzuspüren, muss man also in das Feld eintauchen, es mit Empathie erkunden, es „von innen heraus“ kennenlernen. Viele Potentiale haben ihre Wurzeln in Veränderungen, die heute nur noch schwer zu erkennen sind, wie z. B. der gesellschaftliche Wertewandel oder kulturelle Verschiebungen. Ein Beispiel dafür ist die wachsende Kultur des Gesundheitsbewusstseins und der körperlichen Fitness, die das Wachstum von Bionade ermöglicht hat.

Solche (kulturellen) Veränderungen lassen sich nicht an einem bestimmten Ereignis oder Phänomen festmachen. Um sich solcher Veränderungen bewusst zu werden, ist daher ein „sense-making“-Prozess erforderlich. „Sense-making“ ist ein Prozess, über welchen man in das Thema eintaucht und ein tiefes Verständnis für dieses, aber auch für seinen Kontext erlangt. Am wichtigsten ist, dass es beim „sense-making“ nicht nur darum geht, zu erkennen, was bereits vorhanden ist. Es ist ein hochgradig ko-kreativer Prozess, in dem sich die Teilnehmer*innen und ihr Thema auf eine wechselseitig-transformative Weise entwickeln.

Ein Beispiel aus unserer eigenen Praxis

Zum Schluss möchten wir Ihnen noch ein Beispiel aus unserer eigenen Praxis zeigen.

Lassen Sie uns zunächst den Kontext skizzieren. Vor etwa 10 Jahren war aktivitätsbasiertes Arbeiten noch nicht ganz so weit verbreitet. Damals war das Büro mehr oder weniger statisch. Ein Ort, an dem Menschen an Ort und Stelle bleiben konnten, um ihre Arbeit zu erledigen. In diesem Klima der Trägheit zeichnete sich eine Verschiebung hin zu Flexibilität und freier Bewegung im Büroraum ab. In der Welt der Büroraumgestaltung wurde das Bedürfnis nach freier Bewegung und Flexibilität im Büro zunächst nur als körperliche Forderung verstanden: Körperliche Bewegung kann die Effizienz des Arbeitsablaufs erhöhen (was bedeutet, dynamisch am besten Ort für eine bestimmte Aufgabe zu arbeiten).

Gemeinsam mit dem Büromöbelhersteller BENE sind wir viel tiefer gegangen und haben nach den Potentialen gesucht, die sich im Trend zum tätigkeitsorientierten Arbeiten verbergen und sind damit über den steigenden Trend hinausgehen. In einem leap-Projekt identifizierte ein Teammitglied ein latentes Zukunftspotential, das sie „Bewegung als Enabler für nachhaltiges Lernen“ nannte. Aus dem Potential entstand die Idee, dass es bei Bewegung im Büro nicht nur um körperliche Aktivität geht.

Vielmehr drückt sich hierdurch die grundlegende Verbindung zwischen körperlicher Bewegung und unserem Geist aus. Wir brauchen körperliche Bewegung und Freiheit, um uns auf unbekanntes Terrain zu begeben – und das gilt sowohl für die geistige als auch für die körperliche Erkundung. Unser Bedürfnis nach freier Bewegung in Büroräumen ist gleichzeitig ein Ausdruck geistiger Freiheit und der Sehnsucht nach Kreativität. Bewegung ist forschend, ein Vehikel für den kreativen und lernenden Geist als Grundlage für die gewünschte ( in diesem Fall digitale) Transformation. Doch das Potential war noch nicht ausgeschöpft. Der leap-Prozess hat BENE als führenden Büroausstatter für Kreative positioniert, indem er ein einfaches Produkt entwickelt hat; den BENE-Würfel.

Der Würfel fungiert quasi als trojanisches Pferd, um die lang ersehnte, aber schwer zu erreichende digitale Transformation “from bottom-up” entstehen zu lassen. Auf diese Weise entsteht agiles Arbeiten ganz natürlich und von “innen heraus”.

Sie fragen sich wahrscheinlich, wohin uns das am Ende des Tages geführt hat? Wenn Sie interessiert sind, schauen Sie einfach auf unsere Projektseite.

Das tiefe Verständnis für verborgene Zukunftspotentiale ist das Herzstück unserer Projekte. Potentiale sind die Grundlage für sinnvolle, zielgerichtete Innovationen, aber auch für Veränderungsprozesse. Sie ermöglichen es uns, das zu kultivieren, „was entstehen will“ und Innovationen zu schaffen, die neuartig, aber auch nachhaltig und fruchtbar sind.

Falls Ihr Interesse gewachsen ist, finden Sie mehr zum Thema in unseren Blogbeiträgen „Innovationsstrategien„, „Innovationsherausforderungen“ und „Innovation von innen„.

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Image: David von Diemar at Unsplash